Eilandfluch. Marie Kastner
Neue in eine opulente Villa – auf Capri.
Warum mag er das getan haben, frage ich dich? Warum hat er ein Paradies gegen ein anderes eingetauscht? Irgendetwas muss ihm auf La Gaiola wohl gründlich missfallen haben. Das Mysteriöse daran ist, dass er im Jahre 1911 ein Buch mit dem Namen Siren Land geschrieben hat.
Oh, ich sehe Fragezeichen in deinen Augen. Dann will ich mal etwas weiter ausholen, meine Liebe.
Die Sirenen sind laut der griechischen Mythologie weibliche Fabelwesen, die durch ihren betörenden Gesang vorbeifahrende Schiffer anlocken, um diese zu töten. Man nennt sie deswegen auch die Musen der Todesklage. Der Held Odysseus soll das einzige männliche Individuum gewesen sein, das den verführerischen Gesängen jemals widerstehen konnte. Er schipperte unbeschadet an der Sireneninsel vorbei.
Und jetzt kommt’s: Die drei Sirenen begingen, der Sage nach, wegen ihres kläglichen Scheiterns Selbstmord, indem sie sich ins Meer stürzten. Eine von ihnen, Parthenope genannt, soll tot im Golf von Neapel angespült worden sein. Hier in der Nähe befindet sich angeblich ihr Grab, und hier wurde deshalb noch lange ihr Kult begangen. Ein merkwürdiger Zufall, nicht wahr?«
»Ich sehe den Zusammenhang noch nicht«, bemerkte seine Freundin kopfschüttelnd. Sie schien schon wieder das Interesse zu verlieren. Zu viel Nachhilfeunterricht langweilte sie offenkundig zu Tode.
»Nun denk doch mal scharf nach! Verführerinnen, die Männer eiskalt in den Tod locken … das könnte ein zarter Hinweis auf diese Zwillingsinsel sein, die der Schriftsteller so schnell wieder verlassen hat. Es wäre durchaus möglich, dass er Zeuge mysteriöser Vorfälle geworden ist und es ihm zu peinlich war, darüber zu berichten. Schreiberlinge pflegen prägende Erlebnisse später in ihren Büchern zu verarbeiten, wenn auch meistens auf eine eher metaphorische Weise, verstehst du?«
»Nein«, gab Mona offen zu. Literatur war nicht ihr Ding.
»Wenn man ins Kalkül zieht, was in späteren Jahren auf der Insel alles geschehen sein soll, ergäbe das durchaus Sinn. Aber Schluss jetzt … mit der langen Reihe von Unglücken will ich dir heute nicht mehr auf die Nerven gehen. Genießen wir lieber den schönen Tag, wir können so selten gemeinsame Freizeit genießen«, schloss Thorsten seine Ausführungen.
»Es mag ja sein, dass diese Insel eine bewegte Geschichte hat. Mir gefällt sie trotzdem. Sie übt einen besonderen Reiz auf mich aus«, beharrte das Model.
»Du hättest also keine Angst, hier zu leben?«, fragte Thorsten elektrisiert. Ihm war soeben eine blendende Idee gekommen.
Mona zuckte unschlüssig mit den Achseln.
»Tagsüber auf gar keinen Fall. Aber nachts, wenn alles stockfinster ist und man merkwürdige Geräusche rund um das Haus hört, könnte in dieser Einsamkeit die Fantasie mit einem durchgehen. Oder bei Sturm mit hohem Wellengang zum Beispiel.«
Doch Thorsten war längst in seiner eigenen Gedankenwelt der nüchternen Zahlen versunken. Er hörte ihr gar nicht mehr zu. Sein starrer Blick fixierte gierig jenes sonnenüberflutete Eiland, welches bald über sein weiteres Schicksal bestimmen sollte.
Sobald die nasse Badekleidung halbwegs getrocknet war, fuhren die Urlauber zum Hotel zurück. Am Abend gingen sie groß aus und beschlossen, am nächsten Tag ein Motorboot mit Führer zu mieten, um La Gaiola umrunden und von allen Seiten betrachten zu können. Nach einem anschließenden kurzen Stadtbummel in Neapel würden sie schon wieder in den Flieger steigen und die Rückreise antreten müssen. Beiden graute davor, denn für Frankfurt war Sonntagabend ein Sturmtief angesagt.
*
Thorsten Sasse konnte man getrost als facettenreiche Persönlichkeit bezeichnen. Unter der Knute seines Vaters, eines absoluten Machtmenschen, hatte er früh gelernt, mit strengen Regeln zu leben. Hatte mitbekommen, welchen Stellenwert Geld und Besitz auf dieser kapitalistisch orientierten Welt einnahmen, wie viele Türen sie einem öffneten. Dieser Eindruck hatte sich während seiner Jahre in einem Schweizer Eliteinternat noch verstärkt. Es gab für ihn die gut betuchten Macher, die überall hervorstachen und den Ton angaben – und eben die Anderen.
Im Gegensatz zu Werner-Wolfgang Sasse besaß sein Sohn jedoch einen Sinn für die schönen Künste. Er schätzte Literatur, liebte moderne Gemälde und Skulpturen genauso wie edle Antiquitäten. Wenn er verreiste, dann nicht nur, um Luxusressorts von innen zu betrachten. Er sah sich interessiert in fernen Ländern um, philosophierte gerne über die unterschiedlichen Kulturen; allerdings tauchte er nicht tief genug in deren Volksseele ein, denn hierzu hätte er sich ja intensiv mit den Anderen abgeben müssen.
Im Grunde genommen, kannte niemand Thorsten in seiner Gesamtheit. Mona war mit dem kultivierten Lebemann zusammen. Seine Mitarbeiter kannten ihn als gnadenlosen Pedant und Workaholic, sein Vater sah in ihm mittlerweile eine bedrohliche Konkurrenz. Er war nicht mehr der einzige in der Familie, der es zu etwas gebracht hatte. Sein Königsthron wackelte, und das schmeckte ihm gar nicht. Für seine oberflächliche Mutter war Thorsten noch immer das semmelblonde Bübchen, das sie einst zur Welt gebracht hatte. Geschwister gab es keine.
Und heute saß er mit Menschen am Konferenztisch in der neapolitanischen Liegenschaftsbehörde der Regione Campania, die ihn von seiner härtesten Seite kennenlernen sollten – derjenigen als Verhandlungspartner und Geschäftsmann.
»Ja, Sie haben richtig gehört. Ich beabsichtige, La Gaiola samt Immobilie zu erwerben. Wobei es sich bei letzterer eher um eine Ruine handelt. Ich biete Ihnen somit die Chance, den verfluchten Klotz am Bein loszuwerden – aber im Kaufpreis müssen Sie mir weit entgegenkommen, schließlich ist die Insel derzeit nicht bewohnbar«, startete Sasse die Verhandlungsrunde.
Battaglia saß entspannt neben ihm, die Finger über dem fetten Wanst verschränkt. Mit dem eloquenten Verhandlungsgeschick des Deutschen hatte er selbst schon unliebsame Bekanntschaft gemacht, als es um die Prozente der Geschäftsanteile für sein Investment gegangen war. Ein unglaublich harter Brocken, dieser Thorsten. Dass er sich bereits im Kampfmodus befand, konnte man am hellwachen Adlerblick erkennen.
»Gibt es dort drüben Stromund Wasserversorgung?«, fragte er gerade.
»Sicher, seit den 1920-er Jahren liegt ein Stromkabel auf dem Meeresgrund, das die beiden Inselhälften mit dem Energienetz des Festlandes verbindet. Ein Wasserrohr führt ebenfalls hinüber, allerdings führt es keinen allzu hohen Druck«, nickte einer der italienischen Beamten.
Innerhalb der folgenden zweieinhalb Stunden erfuhr Thorsten alles Wissenswerte über die Liegenschaft, die er zu erwerben im Begriff stand. Einiges davon verwendete er als Argument, um den Kaufpreis zu drücken. Am Ende stand eine stolze Summe im Raum: eineinhalb Millionen Euro. Die Neapolitaner hatten eigentlich zwei gewollt. Und er hatte die Behörde dazu gebracht, die Notarkosten vollständig zu übernehmen.
Beim Hinausgehen wischte sich Enzo Battaglia den Schweiß von der Stirn. Ihm war bei den Verhandlungen heiß geworden, obwohl in Neapel jetzt, Ende Oktober, sehr angenehme Temperaturen herrschten.
»Und nun verrate mir endlich, was dich dazu bewogen hat, eine verfluchte Insel im Ausland zu kaufen. Da hast du dir eine Menge Arbeit und Kosten ans Bein gebunden, mein Junge! La Gaiola ist derzeit nur per Boot erreichbar, was bedeutet, dass man keine Baumaschinen dorthin schaffen kann.«
Thorsten grinste überheblich, reichte seinem Geschäftspartner ein frisches Papiertaschentuch.
»Nur die Ruhe, mein Lieber. Denkst du, das wüsste ich nicht? Ich sehe diese Insel bereits vor meinem geistigen Auge, so wie sie nach den aufwändigen Renovierungsarbeiten aussehen wird. Klar, ich muss sicher nochmals eine Million hineinstecken, oder sogar etwas mehr.
Aber was besitze ich danach? Meine eigene Insel in Europa, darauf eine feudale, historische Villa – und das auch noch mitten in einem Tauchparadies, in direkter Nachbarschaft antiker Kulturstätten. Wer kann sowas schon von sich sagen, wer kann sonst eine solchermaßen faszinierende Residenz sein eigen nennen? Inklusive einer äußerst bewegten Vorgeschichte?
Zudem ist mir die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit sicher, denn jeder wird begierig darauf warten, dass der Fluch wieder zuschlägt.