Kung Fu Toby. H. H. T. Osenger

Kung Fu Toby - H. H. T. Osenger


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      Toby brauchte nicht darüber nachzudenken, ob die Abenteuer der Nacht wirklich geschehen sein konnten oder nur ein Traum gewesen waren, in denen er die Erlebnisse, Ängste und Wünsche des Tages verarbeitet hatte. Für ihn war es Realität. Sein Leben am Tag war für ihn hoffnungslos. Die dunkle Welt Zhaos zog ihn deshalb in ihren Bann und wurde sein Lebensinhalt. Und sie wurde mehr und mehr seine wahre Existenz. Folgerichtig wurde Toby mit der Zeit tagsüber immer verschlossener und kapselte sich so weit wie möglich von der Umwelt ab. Er erledigte seine Hausaufgaben, war aber im Unterricht still. Er reagierte auf Bedrohungen, die er durch Flucht abzuwenden suchte. Und er warf ab und zu noch versteckte Blicke auf die schöne und blonde Bellinda, die ihn aber nicht bemerkte.

      Jeder Mensch hat seinen eigenen Charakter mit seinen Stärken und Schwächen. Ein anderer Junge in Tobys Situation hätte wohl anders reagiert. Vielleicht hätte er genug Selbstbewusstsein gehabt, um die ständige Bedrohung durch die Bande der fünf Jugendlichen zu beseitigen. Entweder aus eigener Kraft, oder vielleicht hätte er sich an seine Lehrer gewandt, an seine Eltern, an die Polizei. Unter Umständen wäre er einer der Jungen gewesen, an die sich die Bande erst gar nicht heran getraut hätte. Er hätte vielleicht auch die Aufmerksamkeit der schönen Bellinda erringen können. Und falls sie auf seine Versuche, mit ihr in Kontakt zu kommen, nicht reagiert hätte, hätte dieser andere Junge sich wohl gedacht: »Dann eben nicht!« und hätte sie fortan ignoriert. Aber das Desinteresse des Mädchens wäre für ihn kein Weltuntergang gewesen.

      Toby hingegen reagierte auf die einzige Art und Weise, wie es ihm möglich war. Er wechselte nachts in seine andere Realität und verlor langsam aber sicher den Bezug zum Hier und Jetzt.

      Die Luft war rein gewesen, als Toby die Schule betreten hatte. Vor dem Gebäude des Gymnasiums hatte niemand Streit gesucht oder gepöbelt. Trübsinnig war er auf den Pausenhof gegangen, hatte auf den Dreiklanggong gelauscht, der den Beginn des Unterrichts anzeigte. In der Masse der anderen Schülerinnen und Schüler war er über den Flur gegangen, hatte den Klassenraum betreten und seine Schulsachen für die erste Stunde ausgepackt. Es würde Englisch geben.

      Neben ihm saß Lars, ein schmächtiger Junge mit rotblondem Haar, blauen Augen und einer Unmenge Sommersprossen, der ebenfalls häufig ein Opfer von Gewalt und Erniedrigung durch die fünfköpfige Bande war. »Haben sie dich gestern in die Finger gekriegt?«

      Toby brauchte nicht zu fragen, wen Lars meinte. Sein Mitschüler hatte wohl sein Ausreißen vom Vortag beobachtet. Toby schüttelte den Kopf.

      »Wie bist du ihnen entkommen?«, fragte Lars weiter.

      »Bin schnell genug gelaufen«, antwortete Toby einsilbig. Doch dann entschloss er sich, die Sache mit dem Lieferwagen und dem freundlichen Fahrer zu erzählen. Lars begann zu lächeln.

      »Mensch, das war aber `ne tolle Idee!«, meinte er begeistert.

      Toby hätte sich gewünscht, Lars hätte den Mund gehalten oder er hätte seine Bewunderung für den Einfall leiser geäußert. Der Englischlehrer hatte den Raum noch nicht betreten, aber Sascha, einer der Jungen, die in der Klasse das Sagen hatten, kam gerade an der Bank vorbei.

      »Wer hat `ne tolle Idee gehabt, hä?«, fragte Sascha. »Doch wohl nicht der blöde Decker, diese Flasche?«

      Toby und Lars schwiegen. Sascha baute sich vor der Bank der beiden auf. Er war knapp einen halben Kopf größer als Toby und sportlich. Mit einem geringschätzigen Lächeln sah er auf ihn hinab. Toby hielt den Blick auf die Tischplatte gesenkt. Er vermutete, dass Lars dasselbe tat, aber im Grunde genommen war es ihm gleichgültig.

      »Also `raus mit der Sprache«, fuhr Sascha fort, während die übrigen Schüler aufmerksam wurden und zuhörten. »Wer hatte `ne tolle Idee? Um worum ging es dabei?«

      Toby hob den Blick. »Ich bin gestern vor den fünf Typen abgehauen, die immer wieder vor unserer Schule aufkreuzen und Ärger machen. Beinahe hätten sie mich geschnappt, aber ich habe mich in einem Lieferwagen versteckt, aus dem Kartoffeln ausgeladen wurden.«

      Gelächter brandete auf. Für den Rest des Tages wurde Tobias erst Kartoffel-Toby, dann einfach Toffy genannt.

      Nach dem Englischunterricht musste Toby eine Doppelstunde Sport überstehen. Er hasste Sport, da er sich für unsportlich hielt. Er hatte auch nie ernsthaft versucht, etwas daran zu ändern, sondern nahm seine geringe Fitness als gegeben hin. Die erste Stunde verging mit Bodenturnen, danach wählten die vier sportlichsten Schüler Mannschaften für Handball aus. Die Jungen und Mädchen, die im Sport erfolgreich waren, wurden natürlich als erste ausgewählt, danach kamen die an die Reihe, die weniger gut waren, und so weiter. Toby, Lars und Wim, ein dicklicher Junge mit brauner Haut und pechschwarzem, dichtem Haar, der immer mit beiden Händen seine Hose hochzog, waren die Letzten, die mit Murren zwischen den anderen geduldet wurden. Toby lief zwar so gut er konnte im Spielgeschehen mit, kam aber nicht einmal in den Ballbesitz. Er hatte auch nichts anderes erwartet. Wenigstens sorgte er nicht dafür, dass die Klasse etwas zu lachen hatte. Aber Wim stolperte einmal, während er versuchte, dem Ball nachzulaufen, und fiel hin, dass der Holzboden der Turnhalle krachte. Er rappelte sich mühsam auf, während sein Kopf wie eine reife Tomate glühte. Jetzt hatte die Klasse etwas zu lachen, und sie tat es auch.

      Logisch!, dachte Toby bitter. Wim war genau solch ein Außenseiter wie Lars und er selbst. Anfangs hatten sich auch manche über sein etwas exotisches Aussehen lustig gemacht, bis Wim in der Erdkundestunde Gelegenheit gehabt hatte, etwas über sich zu erzählen. Seine Eltern waren Deutsche, die einige Jahre in Mexiko gelebt und gearbeitet hatten. Dort war ihnen Wim als Kleinkind, das kaum gehen und nicht sprechen konnte, zugelaufen. Trotz aller Bemühungen waren seine richtigen Eltern nicht festzustellen gewesen. So hatte das deutsche Ehepaar den Jungen behalten, ihn adoptiert und mehrsprachig aufgezogen. Wim beherrschte nicht nur Deutsch, sondern auch Spanisch und Englisch. Irgendwie besorgte ihm diese Geschichte soviel Respekt, dass er nicht mehr wegen Haut- und Haarfarbe gehänselt wurde.

      Zum Schulschluss ging Toby wieder mit einem fürchterlichen Druck in der Magengrube Richtung Ausgang. Er spähte erst vorsichtig vom Gebäude aus nach draußen. Gott sei Dank, die fünf Schläger schienen nicht da zu sein. Trübsinnig machte sich Toby auf den Heimweg.

      

       Tobys Mutter

      Nora Decker bemerkte die Veränderung an ihrem Sohn mit großer Sorge. Er war immer schon ein stiller Junge gewesen, in sich gekehrt, nicht sehr kontaktfreudig. Nun musste sie diesen langsamen, aber stetigen Wandel registrieren: Toby sprach noch weniger als sonst, zeigte an fast nichts mehr Interesse, machte immer häufiger einen schwermütigen Eindruck. Und er ging immer früher in sein Zimmer, wenn es Abend war. Ihre Versuche, den Jungen zum Sprechen zu bringen, waren vergebens. Auf ihre Fragen, was mit ihm nicht stimme, antwortete Toby einsilbig, dass alles in Ordnung sei.

      Sie hatte nur kurz erwogen, mit ihrem zweiten Mann über die langsame Verwandlung ihres Sohnes zu sprechen. Aber ihr war klar, dass Tobys Stiefvater nicht das geringste Interesse hatte, an seinem kostbaren Feierabend oder am Wochenende über die Probleme eines Jungen zu sprechen, der von einem anderen Mann abstammte. Sie musste allein eine Lösung finden. Aber welche?

      Als erstes bat sie um Gesprächstermine bei Tobys Lehrern. Das hatte überhaupt keinen Erfolg. Die Mehrzahl der Männer und Frauen bestätigten lediglich ihre eigenen Beobachtungen, einer kam sogar noch auf die Idee, ihr wegen des passiven Verhaltens ihres Sohnes Vorwürfe zu machen. Sie solle mehr auf die Erziehung ihres Sohnes Einfluss nehmen und ihn ermahnen, mehr aus sich heraus zu gehen. Auf Nora Deckers Frage, wie sie da vorgehen solle, wusste er auch keine Antwort.

      Der nächste Schritt war ein Besuch beim Hausarzt. Der Doktor versprach einen »gründlichen Check-up«. Nach den Untersuchungen bestätigte er, dass Toby körperlich gesund und vollkommen normal entwickelt sei. Ja, gewiss, es gebe da Anhaltspunkte für eine seelische Verstimmung, aber dafür sei er nicht der richtige Ansprechpartner. Er empfahl einige Kollegen aus dem Bereich der Seelenheilkunde bzw. ein Hilfegesuch an den schulpsychologischen Dienst zu stellen. Die Terminkalender der empfohlenen Psychiater waren allerdings auf Monate hinaus ausgebucht, der schulpsychologische Dienst aufgrund


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