Magierin der Liebe. Monika Auer
von meiner zweiten großen Liebe bin ich entweder wochenlang allein oder treibe mich stundenlang abends mit Freunden in Bars herum. Ich fühle mich entweder depressiv oder himmelhoch jauchzend. In dieser bipolaren Phase bricht abermals Beziehungsanarchie aus. Ich bin von vielen Verehrern umgeben, darunter ein Brasilianer, der mich unbedingt heiraten will.
Sogar mein platonischer Freund aus Teenager-Tagen, Psychopompos, bemüht sich, was ich zunächst als Fürsorge missverstehe. Wahrscheinlich verdränge ich seine Verliebtheit, weil ich in ihm den idealen, männlichen Lebensberater sehen will, der mich nicht wie ein Sexobjekt behandeln soll. Ich brauche seine seelische Unterstützung. Ich werde nach wie vor von Albträumen geflutet. Und der Abschluss meines Berufskollegs wird zu einem einzigen Kraftaufwand. Ich bin keineswegs aus meiner Nervenkrise heraus. Demzufolge lasse ich mich des Öfteren krankschreiben. Nur mithilfe dieser kleinen Auszeiten gelingt es mir, den Balanceakt zwischen Lernen, Jobben und den Phasen einer Katatonie zu halten. Beim Lernen muss ich Mut zur Lücke zeigen, mich auf das Wesentliche konzentrieren. Auf diese Weise schaffe ich die Abschlussprüfungen in Biologie, Physik sowie in anderen wichtigen Fächern.
Ich hangele mich durch. Ich absolviere erfolgreich die Fachhochschulreife. Alsbald verschicke ich Bewerbungen für einen Studienplatz. Während ich auf Antwort warte, besuche ich wieder meine Lieblingskneipe. Nach all den Entbehrungen und Büffelphasen möchte ich feiern gehen. Da begegne ich meiner dritten großen Liebe. Er ist in meinem Alter und ein Freigeist. Es gefällt mir, dass er für eine offene Beziehung ist. Damit macht er es mir leicht, mich auf ihn einzulassen. Eifersüchtige Männer sind mir ein Gräuel. Außerdem mag ich meine anderen Liebeleien nicht abrupt beenden. Diese Jungs sind auch meine besten Freunde geworden. Ich mag sie in meinem Leben behalten dürfen.
Dann erhalte ich zwei positive Zusagen für einen Studienplatz. Ich wähle denjenigen aus, der dem Wohnort meines neuen Liebhabers, dem Freigeist, am nächsten ist. Alles deutet auf einen Neuanfang hin, sowohl in meinem beruflichen Werdegang als auch in der Partnerschaft. Ich blicke in eine hoffnungsvolle Zukunft.
Ich bin fünfundzwanzig. Ich erhalte weiterhin BAföG und beginne mein Studium als Chemieingenieurin in der anderen Stadt. Warum ich nicht die Psychologie als Studium wähle, wo dies mein innigster Wunsch ist, bleibt mir lange ein Rätsel.
Meine dritte große Liebe, der Freigeist, bekommt ein Angebot für ein Auslandspraktikum, als ich gerade mal ein Semester lang in der anderen Stadt bin. Ich gönne ihm diese Erfahrung, wenngleich mich der Gedanke Angst macht, das nächste Semester allein in einer fremden Stadt zu sein.
Ich fürchte mich vor Einsamkeit, denn ich kann wenig Freunde machen. Ich jobbe weiterhin viel neben dem Studium, um meine Lebenserhaltungskosten im Griff zu behalten. Zum Beispiel arbeite ich fast jeden Abend als Servicekraft in einem Restaurant. Später nehme ich Aufträge als Laufsteg-Model für eine lokale Modelagentur an und zu guter Letzt arbeite ich als Setzerin in einer Lokalzeitung. Der Schreibmaschinenkurs kommt mir nun doch zugute.
Ich vermisse meinen Freund. Die wenigen Anrufe aus den USA genügen mir nicht als Zuwendung. Mir wird klar, dass ich für eine Fernbeziehung ungeeignet bin. Zuviel Kopfkino, zu viel Raum für Projektionen. Mein Vertrauen in unsere Liebe bekommt erste Risse.
Pünktlich zum Wintersemester bin ich depressiv. Dieser Gemütszustand ist wie eine wiederkehrende Jahreszeit. Besonders im Herbst, wenn die Blätter von den Bäumen fallen sowie im Winter, wenn eine dicke Schneedecke alles Lebendige unter sich begräbt, erhebt sich die Depression wie ein großer schwarzer Vogel aus den Untiefen meines Seins, schlägt ihre Klauen in mein Herz. Mit stetigem Flügelschlag trägt es mich weg von meiner Blumenwiese, direkt in den Höllenschlund hinein.
Von Außen sieht es mir keiner an. Ich halte die Maske einer starken Kämpferin aufrecht. Doch in Wahrheit bin ich eine miese Schwimmerin im großen Ozean des Lebens. Ich halte kaum meinen Kopf über Wasser. Ständig versinke ich vor Erschöpfung in den Untiefen meines Tränenmeeres. In dieser bedrückenden Phase zelebrieren sich erneut Albträume. Manchmal denke ich, sie sind das einzig Lebendige in mir. Und obwohl sie mich nach wie vor stressen und die Traumarbeit kompliziert ist, begrüße ich sie. Ohne meine Träume wäre ich wahrscheinlich tot.
Das große Buch der Traumdeutung kommt inzwischen täglich zum Einsatz. Die Buchseiten sind voller Flecken vom Kaffee oder Tränenfluss. Manchmal möchte ich am liebsten in die Welt der Mythen hineinkriechen, ahne ich doch, ich könne darüber die Kontrolle über meine emotionale Sintflut zurückerlangen.
„Wenn ich meine Träume verstehe, beruhigt sich dann meine flatternde Seele?“, frage ich mich.
Ich bin sechsundzwanzig. Der Freigeist ist aus dem Ausland zurück. Doch es fällt mir schwer, an meine Gefühle für ihn anzuknüpfen. Das letzte Semester, während seiner Abwesenheit, veränderte mich. Seit dem sind mir meine Traumen im Bewusstsein präsenter als je zuvor. Ich denke viel darüber nach, eine Psychotherapie zu machen. Ich traue mich und bespreche meine Pläne in Bezug auf meine seelische Heilung mit dem Freigeist. Es ist mein erstes Outing. Ich spreche zum ersten Mal offen über den sexuellen Missbrauch in meiner Kindheit.
Leider reagiert der Freigeist abweisend. Er spricht sich gegen eine Psychotherapie aus, denn „seine Freundin geht nicht zu einem Psycho-Onkel“.
Warum werde ich jedes Mal verletzt oder im Stich gelassen, wenn ich mich öffne? Re-Trauma. Ein Semester darauf verlasse ich meine dritte große Liebe. Ich kann nicht mit jemanden sein, der mich nicht so nimmt, wie ich bin. Bindungsbruch.
Und wieder stürze ich mich ins Studium und die vielen Nebenjobs, kann den Verlust meines Freundes nicht kompensieren. Obwohl Psychopompos inzwischen in meiner Stadt lebt, sehen wir uns nicht. Er nimmt mir die Beziehung zum Freigeist immer noch übel. Auch ein Kurztrip nach Miami führt nicht zu der Erholung, die ich mir insgeheim erhoffe. Dafür kehre ich nach einer tragischen Begegnung mit einem Native American mit einer größeren Verwirrung im Herzen zurück, als jemals zuvor.
Ich bleibe vorerst solo. Mir schlagen diese Bindungsbrüche auf den Magen. Mein Bauch reagiert gereizt, ist eine chronische Blähkugel gleich einem Kugelfisch in seiner krassen Abwehrreaktion. Obendrein plagt mich die Lumbalgie und hält mich ohne Unterlass im Rückenschmerz gefangen.
Diese Zeit, während meines Studiums, ist eine Leidensphase. Ich komme nicht zur Ruhe. Und dann sind da diese schwierigen Klausuren. Ich habe Angst, zu versagen.
Ich bin 27-jährig, als sich die Ereignisse zu spitzen. In Europa grassiert der Bosnienkrieg, mit dem ich mich nicht auseinandersetze, noch nicht. Vielmehr versuche ich, mich von negativen Dingen abzulenken. Ich gehe mit einer Kollegin, die im gleichen Restaurant als Servicekraft arbeitet, auf eine Uni-Fete. Wir treffen auf einen Bekannten von ihr, den sie mir als Zahnarzt vorstellt. Eigentlich mag ich ihn gar nicht. Trotzdem erlaube ich es ihm, mir Avancen zu machen.
Da steht unerwartet der Freigeist vor meiner Tür. Er möchte mich zurückhaben, bereut seine Ignoranz meinem Trauma gegenüber. Er macht mir sogar einen ernst zu nehmenden Heiratsantrag.
Ich bin gerührt und erlaube ihm, mich zu lieben als wäre es ein letztes Mal. Und tatsächlich wird unsere sexuelle Begegnung zu einem meiner wichtigsten Momente auf dem Weg zur Selbstheilung. Ich wünschte, dies hätte für einen Neuanfang genügt. Doch ich bin mit Siebenmeilenstiefeln vorangegangen. Ich schaffe es nicht zu ihm zurück.
Mein Schicksal ist besiegelt. Ich gehe in die Partnerschaft mit dem Zahnarzt von der Uni-Fete. Bald bereue ich meine Entscheidung, denn dieser Kerl führt mich in den Sumpf von häuslicher Gewalt, und das im Kontext des Bosnienkrieges, in dem Frauen und Mädchen systematisch vergewaltigt werden. Abermals bin ich Opfer sexueller Herrschaft. Re-Trauma. Es nimmt kein Ende.
Auch nach meinem Studium erlebe ich laufend Flashbacks. Mal sind es eifersüchtige Frauen, die mich mobben, wie damals meine Mama. Mal sind es übersexualisierte Männer, die mich in allen Lebensbereichen dominieren wollen, wie damals mein Papa. Wie kann ich diesem verhängnisvollen Opfer-Täter-Dilemma entkommen, wo doch die ganze Gesellschaft traumatisiert ist, und ich mich deswegen ständig neu infiziere? Egal in welche Stadt ich ziehe, das Psychodrama folgt mir oder ist bereits da.
Drei Jahre später schließe ich erfolgreich mein naturwissenschaftliches Studium ab.