Magierin der Liebe. Monika Auer
weiter zurück“, weist mich der Novize an, um meine inneren Bilder wieder in den Flow zurückzubringen. Und tatsächlich verändert sich die Szene hinter meinen bleiernen Augenlidern.
Ein 7-jähriger Knabe im Gewand des Spätrokoko taucht auf. Er mutet wie ein kleiner Prinz an.
„Ich glaube, ich befinde mich im 19. Jahrhundert“, leite ich an seiner Mode ab.
Dann wechselt wieder abrupt die Dynamik.
Nun stehe ich in einem dunklen Tunnel. Ich bin unentschlossen, in welche Richtung ich mich bewegen soll. Einmal blicke ich nach vorne in gleißend-weißes Licht, dann hinter mich in eine diffuse Dunkelheit.
„Warum zögerst du?“, dringt die Stimme des Schamanen-Novizen an mein Ohr.
„Ich muss noch einmal zurück zum kleinen Prinzen“, sage ich mit schwerer Zunge. Kaum spreche ich diese Worte aus, befinde ich mich auch schon wieder in der Dimension des kleinen Prinzen, der inzwischen zu einem jungen Mann Anfang Zwanzig herangewachsen ist.
Ich komme gerade im richtigen Moment dazu, wie sich der junge Mann in großem Kummer in den Fluss stürzen will. Instinktiv will meine Hand ihn retten. Und er greift sie. Tropfnass und mit jämmerlichem Gesichtsausdruck steht er vor mir. Da empfinde ich unverhofft großes Mitleid mit ihm. Ich fühle tiefe Empathie und spüre seinen Schmerz, als wäre es mein eigener.
Und dann offenbart sich mir die Ursache für sein ganzes Leid.
Ich sehe eine Prinzessin, eingesperrt im Turmzimmer - die Zwillingsschwester. Und obwohl es die böse Königinmutter ist, die sie gefangen hält, überwältigt es den Prinz mit Schuld- und Schamgefühlen.
Nach dieser letzten Vision schüttelt mich ein Weinkrampf. Ich verliere den Kontakt zu meinem Unbewussten. Der Schamanen-Novize reagiert sofort auf meinen Prozess. Er greift ein, in dem er mir Worte in den Mund legt, die er wahrscheinlich aus seinem weißen Ringordner abliest. Ich soll sie laut aussprechen. Tatsächlich führt es mich zurück in die inneren Bilder.
Ich selbst bin mit einem Mal die Resonanzgeberin des jungen Prinzen. In dieser Funktion stehe ich, wie in einer Aufstellung, der Prinzessin gegenüber. Wir halten uns fest an beiden Händen, schauen uns tief in die Augen. Dabei sage ich jene Worte, die mir vom Novizen aufgetragen wurden. Sie kommen mir wie eine Zauberformel vor, die ein hoffnungsloses Versprechen auflösen soll. Es gilt, loszulassen. Ich soll nicht hinter mich schauen, sondern voranschreiten.
Die Zauberformel zeigt Wirkung. Meine innere Dynamik ändert sich erneut.
Ich bin zurück im Tunnel, der mir wie ein Übergang zwischen Welten erscheint. Da ich jetzt frei bin, bewege ich mich auf das gleißend-weiße Licht zu. Ich komme gerade am Ende des Tunnels an, da erscheint urplötzlich das Gesicht meines Vaters. Sein Anblick löst augenblicklich einen anderen großen Schmerz in meiner Seele aus.
„Papa, ich vermisse dich“, ruft mein gebrochenes Herz ihm zu.
Dann schüttelt es mich wieder im Weinkrampf. Ich ertrinke in den Fluten meiner Tränen. Dann höre, sehe und fühle ich eine Weile nichts mehr.
Indessen wartet der Schamanen-Novize geduldig meinen tränenreichen Reinigungsprozess ab. Ich vermute, er überwacht ebenso meinen Körper, der nach wie vor bleischwer auf dem grauen Teppich liegt. Meine Augäpfel rollen inzwischen hinter den geschlossenen Augenlidern wild hin und her. Gleichzeitig steigt mein Puls an. Auch meine Atmung wird heftiger. REM (Rapid Eye Movement) setzt ein.
Ich sehe Alma Mater auf mich zukommen. Sie gesellt sich zu mir, als wolle sie mich unterstützen. Es ist mir nicht möglich, sie freudig zu begrüßen, weil bereits die nächste Person ins Licht tritt. Sie zieht meine ganze Aufmerksamkeit auf sich. Es ist eine ältere Frau, die sich an die Seite meines Vaters stellt. Es dauert eine Sekunde, bis ich in ihr meine Großmutter väterlicherseits (die Mutter meines Vaters) erkenne, oder besser gesagt „erfühle“. Ich lernte sie nie kennen, weil sie mit neunzehn Jahren bei einem Autounfall verstarb. Sie verließ damals ihren Sohn (meinen Papa) in seinem sechsten Lebensmonat.
Es scheint, alle sind anwesend, die es für den nächsten Schritt braucht.
Ich bemerke, wie meine Großmutter väterlicherseits wild gestikuliert. Sie gibt mir offensichtlich Zeichen, auf meinen Vater zu hören.
„Folge mir“, ruft dieser mir auch schon winkend zu.
Unsicher, wie ich auf diese Aufforderung reagieren soll, suche ich den Blickkontakt zu Alma Mater. Sie steht weiterhin an meiner Seite und ergreift meine Hand.
„Geh nur. Ich begleite dich“, sagt sie aufmunternd.
Während meine Oma indessen im Licht zurückbleibt, heften wir uns Händchen haltend an die Fersen meines Vaters. Er übernimmt die Führung. Pfeilschnell schießen wir allesamt, eine Dreiecksformation bildend, wie man es bei Zugvögeln kennt, tiefer ins Unbewusste hinein.
Während mein Körper weiterhin bleischwer auf dem grauen Teppich zurückbleibt, spannt sich meine Traumseele auf wie ein großer Regenbogen. Mein Bewusstsein ist immens erweitert. Ich orte Geräusche und Düfte in der Wohnung mit meinen normalen Sinnen. Gleichzeitig sehe ich die inneren Bilder meiner nichtalltäglichen Wirklichkeit klar und deutlich.
Je weiter ich mit meinen Vater und Alma Mater in dieses, wie es scheint unendlich große, Universum eindringe, desto mehr verliere ich das Empfinden für die Schwerkraft meines physischen Körpers. Es ist, als ob der graue Teppich unter mir weggezogen würde. Der Boden unter mir öffnet sich, wie eine Klappe.
Nun bin ich im Himmel und schwebe, wie ein Adler, über nicht enden wollenden Wiesen und Wälder.
Dieser freie Flug berauscht mich. Ich falle wieder in Trance, höre, sehe und fühle für eine Weile nichts. Ich kann nicht sagen, wie lange es dauert, bis ich in meinem Traumbewusstsein wieder klar werde. Das Gefühl für meine Schwerkraft kehrt zurück und gibt mir eine Orientierung in der alltäglichen Wirklichkeit. Ich liege immer noch bleischwer und völlig unbeweglich auf dem grauen Teppich im Wohnzimmer des Professors. Dann setzt ein zweites Mal REM ein und ich sehe ein Burgschloss.
(20) „Oft erscheint das Schloss als archetypisches Muttersymbol. (…) In den meisten Fällen informiert das Traumbewusstsein mit dem Schloss über einen Mutterkomplex. “
Mein Vater fliegt auf es zu, mit seinen hellen Fenstern und seiner ausladenden Steintreppe. Er stoppt an ihrer untersten Stufe und beendet damit unseren Flug. Sogleich werde ich von einem starken Energiesog erfasst, der mich in die erleuchtete Schlosshalle hineinträgt, als wäre ich eine leichte Feder.
Alma Mater und mein Vater folgen mir nicht. Ich bleibe allein.
Und da erkenne ich das Szenario. Es ist die Burg aus meinen Albträumen mit dem großen knisternden Kaminfeuer in der Eingangshalle. Hoch oben im Gebälk entdecke ich zudem jene Eule, die mich vom Kinderschrank aus beobachtete, als ich 7-jährig meinen Suizid visionierte. Auch jetzt beäugt sie mich aufmerksam.
Dann wechselt die Traumdynamik Schlag auf Schlag.
Ich stehe ganz nah vor dem offenen Kaminfeuer, als ich unerwartet einen Stoß von hinten erhalte. Ich stürze ins Feuer. Ich brenne lichterloh.
(21) „Das Feuer ist von höchstem Nutzen. Allgemein gesehen ist das Feuer ein Symbol psychischer Energie. Es kann auch als Symbol für eine seelische Reinigung auftauchen und ebenso als ein Erneuerungs- und Wiedergeburtssymbol. “
Gleichwohl sich der Feuertod im Klartraum abspielt, schießt ein ungeheuerlicher Schmerz wie eine Stichflamme in mein Körper ein. Er kommt mit einer solch gewaltigen Wucht, er könnte Stahl verbiegen. Und so krümmt es mich mit großer Kraft in eine Embryonalhaltung, trotz meiner bleischweren Glieder. Wie in Zeitlupe ziehen sich meine paralysierten Arme und Beine von ganz allein zur Körpermitte hin. Mir wird Angst und Bang. Genauso muss sich Sterben anfühlen. Die Empfindung ist derart präsent, dass sie meine Aufmerksamkeit fesselt. So entgeht mir nicht der Wirbel auf der Höhe meines Bauchnabels. Ich nehme deutlich wahr, wie er im Zentrum Stärke aufbaut, bis es ihn mit einem Ruck aus mir herauskatapultiert. Meine Seele hat mich soeben verlassen. Ich bin von diesem