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einiger Zeit folge ich meinem Instinkt. Es ist, als sei ich mit etwas Neuem rückverbunden. Dieses Etwas besitzt die Kraft, das Schweigegelübde zu brechen. Es dauert noch einige Monate, bis ich verstehe, dass es mein Künstler-Ich ist, das damals durch den sexuellen Missbrauch in die Anderswelt flüchtete, um dann durch eine erst kürzlich erlebte Trauminkubation wieder zu mir zurückkehrte. Seit dieser Nacht, in der ich von meinem Selbstporträt träumte, male ich jeden Tag Papierflächen mit Acrylfarben, Kreide oder Bleistift voll. Mein Künstler-Ich übernimmt ab da, wo ich einst meine Sprache verlor. Mit seiner Hilfe gebe ich preis, was mir als kleines Mädchen passiert ist.

      Also bin ich seit einer Weile das Kunstmedium meines machtvollen Unbewussten. Unter seinem Einfluß banne ich sämtliche außergewöhnliche Lebenserfahrungen im Fluss der Farben und Formen auf die Leinwand.

      Selbstverständlich möchte ich auch die Wirkung der Rückführung in ein Zeitdokument verwandeln. Und so stehe ich in meinem kleinen Atelier, entblößt und verletztlich, wie zu meiner Geburt. Alles ist nach einem schamanistischen Ritual vorbereitet, das in buddhistischen Bücher auch als eine Sadhana-Praxis beschrieben ist. Danach gebe ich mich völlig meiner Intuition hin. Was oft in eine Trance mündet.

      Ich stimme mich auf die Vibration in meinem Nervenzell-Netzwerk ein, die meine zuvor isolierten kindlichen Erfahrungsinhalte, meine unbewussten und unausgereiften Vorstellungen sowie Gedankenverbindungen freigibt. Alles das steigt aus den Tiefen meines Bauchraums empor. Es veranlasst mich, einen Haufen Zeitungsschnipsel im unteren Drittel eines Zeichenpapiers mit weißer Acrylpaste zu einem Brei zu verbacken. Eine Art Landesteg klaren Bewusstseins für einen aus dem Trauma zurückkehrenden Ich-Anteil. Ohne Reflexion der Dinge tunke ich abwechselnd den Pinsel in einen ockerfarbenen oder grünen Acrylfarbtopf. Mit schnellen Gestiken gestalte ich den Hintergrund meines zweiten Seelenbildes (das Allererste ist Mathilden – A Chorus of Angels), hüllt es mich symbolisch in die heilsame Kraft von Mutter Erde.

       The Door, 2004, Mischtechnik (Acryl, Kreide, Bleistift, Zeitung) 70 x50 cm

      „Ich wünsche mir, von ganzem Herzen Liebe zu spüren, die Leichtigkeit des Seins, Glück und Freude in meinem Leben. Ich komme zurück. Und nehme meinen Platz wieder ein.“

      Ich weiß nicht, was mich erwartet. Es ist als wandere ich in einen Wald hinein, ohne jedes Ziel, lasse mich von meiner Intuition leiten, mal rechts mal links abbiegend, stets in geistiger Verbundenheit mit der Natur.

      Da fühle ich einen drängenden Impuls, in dunkelbrauner Acrylfarbe zu baden. Braun, wie der Stamm eines Baumes, so stark und geerdet. In gestischer Manier trage ich die Farbe auf meinem Gesäß und meinen hinteren Oberschenkeln auf. Es fröstelt mich, denn das Malwasser ist kalt. Beim nächsten Mal muss ich es anwärmen. Und dann packt mich abermals ein starker Impuls. Unverhofft tunke ich einen weiteren Pinsel in knalliges Orange. Ich ziehe ihn mit einer kurzen, heftigen Bewegung über meine Vulva, als würde ich wie eine Kriegerin das Schwert ziehen, um dem großen Drachen den Kopf abzuschlagen. Wut. Mein Zorn, der sich über Jahre in meiner Genitalie aufgestaut hat, gerät ins Fließen. Er darf sein.

      Plötzlich fühle ich mich während meines Malprozesses von einer Klarheit durchdrungen. Ich bin von einer Kraft getragen, für die ich kaum Worte finde. Deshalb geschieht etwas Außergewöhnliches. Ich werde zu einem lebendigen Farbpinsel. Ich setze mich wie von unsichtbaren Fäden gezogen rücklings auf das Zeichenpapier, direkt auf den weißen Landesteg aus Zeitungsschnipseln.

      Das Ergebnis ist ein brauner Abdruck meines Allerwertesten, der gleichermaßen wie zwei große Lungenflügel anmutet, als atme ich die Kraft des Lebensbaumes ein. Ich werde wieder lebendig. Das drücke ich sogleich aus unter Verwendung einer türkisblauen Kreide. Ich zeichne ein nach oben geöffnetes Gefäß, das ein Symbol für mein Kronen-Chakra sein soll. Steht es aufrecht, geht es mir gut. Umgekehrt bedeutet es, dass ich dem Abgrund nahe bin.

      Da stehe ich nun, am ganzen Körper über und über verschmiert mit Acrylfarbe und betrachte überwältigt mein zweites Seelenbild. Das alles war die ganze Zeit in mir? Ich taufe das Werk intuitiv The Door, ohne recht zu verstehen wieso. Erst Tage später geht mir ein Licht auf. Bereits im Bauch meiner Mutter schwankte ich zwischen Leben und Tod, musste ich mich aufspalten. Da waren Seelenanteile, die ins Jenseits flüchteten, andere erstarrten in meinem Körper. Die Rückführung brachte etwas in den Flow, erlaubte mir, eine Wahl zu treffen. Ich entschied mich für das Leben.

      Und so trete ich ein in die Dimension, die da heißt Erde. Nun verstehe ich auch, warum ich unbewusst zu Braun, Ocker und Grün griff. Es sind die Farben der Natur, von der ich ein Teil bin. Und es brauchte noch mehr Zeit, bis ich endlich begriff, dass das Figurative in der Mitte des Seelenbildes die Verletzung meiner Intimgrenze offenbart. Damals, als mich mein Vater zwang, Gonzo-Pornos zu schauen. Diese Bilder sind in meinem Nervenzell-Netzwerk gespeichert, deshalb flossen sie während des Gestaltern ins Bild. Unbewusst wollte ich mich davon frei machen, und projizierte es ins Außen. Ich denke, ich bin soweit. Seit der Rückführung fühle ich mich stark genug, mich dem ganzen Außmaß des Inzests zu stellen.

      Selbstverständlich präsentiere ich dem Professor stolz die Ergebnisse einer Salutogenese des Bildlichen. Ich glaube, ich habe einen Weg gefunden, meine psychische, und auch körperliche Starre loszuwerden. Ich werde alles malen.

      „Ich freue mich für dich“, ruft er aus. „Bist du bereit für den nächsten Schritt?“

      „Du könntest eine Familienaufstellung machen“, inspiriert er mich.

      Zufällig kennt er eine Psychologin, die mit meinem Thema therapeutische Erfahrung hat. Ich fasse mir ein Herz. Ich hinterlasse auf ihrem Anrufbeantworter mein Anliegen sowie meine Telefonnummer für einen Rückruf. Letzterer erfolgt schneller als mir lieb ist. Nun gibt es kein Auskommen mehr. Ich werde wieder eine neue Heilmethode kennenlernen: Familienaufstellung nach Hellinger.

      Es beginnt mit Warten in einem Stuhlkreis, der recht viele Teilnehmer umfasst. Als die Psychologin schließlich den Therapieraum betritt, fällt mir sogleich der Kontrast zwischen ihrer männlichen Ausstrahlung und ihrer femininen Hochsteckfrisur auf. Ich mag sie. Sie wirkt vertrauenswürdig. Außerdem höre ich gerne ihre rauchige Stimme, die mir ein Gefühl von Geborgenheit vermittelt.

      Meine Anspannung fällt etwas nach der Vorstellungsrunde aller Anwesenden ab. Das sind alles nette Menschen, die behutsam mit den aufgestellten Themen umgehen. Jeder darf mit seinem Thema ankommen, was mir Mut macht. Mein erster Eindruck von einer Familienaufstellung ist positiv. Ich habe das Gefühl, hier richtig zu sein.

      Nach der großen Pause beginnt mein Herz höherzuschlagen. Denn ich bin an der Reihe, meine Familie aufzustellen. Einerseits kann ich es kaum erwarten. Andererseits bin ich schrecklich ängstlich. Ich kann nicht einschätzen, was mich erwartet. Zudem bin ich es nicht gewohnt, mich derart vor anderen zum Thema sexuelle Gewalt zu öffnen. Noch brauche ich die Malerei als nonverbale Vermittlerfunktion. Der Knebel sitzt immer noch in meinem Mund. Mir fehlen so viele Worte.

      Hinzu kommt die Scham, diese schreckliche Scham über das, was mir passiert ist. Als ahne die Therapeutin, welch ein Gefühlssturm in mir losbricht, holt sie mich auch schon mit ihrer rauchigen Stimme aus meinem Gedankenkarussell heraus.

      „Bitte stellen Sie ihre Mutter, ihren Vater, ihre Geschwister und ihre Großeltern auf“, fordert sie freundlich lächelnd.

      Ich begebe mich in die Mitte des Stuhlkreises, von wo aus ich eine bessere Übersicht über die Seminarteilnehmer bekomme. Sie blicken mich allesamt an. Keine leichte Position für mich. Ich muss tapfer zurückblicken, möchte ich eine geeignete Resonanzgeberin für mich finden. Plötzlich zieht es meine Aufmerksamkeit nach innen. Mir wird leicht schwindelig. Mit glasigen Augen picke ich kurzentschlossen eine Frau heraus die mir für mein Ich geeignet erscheint.

      „Würdest du mich vertreten?“, frage ich sie leise.

      „Ja, gerne“, sagt sie laut und steht auf.

      Sie kommt zu mir in den Kreis, was mich stärkt. Ich sehe wieder etwas klarer und stelle nun recht zügig alle anderen Repräsentant_innen für


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