Magierin der Liebe. Monika Auer

Magierin der Liebe - Monika Auer


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      „Um Gottes willen, Kind, was machst du da? Man spielt halt nicht mit elektrischen Sachen. Da war noch Strom drauf“, ruft sie entsetzt aus.

      Ob meine Mama mich danach in ein Krankenhaus zur Kontrolle und Überwachung meines Gesundheitszustandes verbrachte, behalte ich nicht in Erinnerung.

      Auch verhaftet mir nicht im Gedächtnis, ob sie mir den Hintern versohlte oder mich tröstend in die Arme nahm. Zurück bleibt ein dumpfes Gefühl, ich könne an meiner Narbe im rechten Herzmuskel selbst Schuld sein.

      Ich bin sechsunddreissig und mittlerweile von einer aufregenden Australienreise zurück. In meiner Küche sitzt ein Freund zu Besuch, der quasi Nachfolger von Psychopompos. Alle nennen ihn Professor, weil er sehr gebildet ist, insbesondere im naturwissenschaftlichen Sektor. Auch für mich ist er wie ein Gelehrter. Das erste Mal begegnete er mir während meiner Diplomarbeit in einem Automobilunternehmen. Das heißt, er ist seit einigen Jahren Zeitzeuge meines turbulenten Lebens. Oft genug versucht er mich zu coachen, wenn meine Lebenspläne mal wieder crashen. Unsere Beziehung ist übrigens rein platonisch. So sehe ich das jedenfalls.

      Der Professor befindet sich also bei mir und trinkt Tee, während wir meine Lebenssituation reflektieren. Ich spüre, dass er mir helfen will.

      „Du musst etwas tun. Werde endlich aktiv und nimm dein Schicksal in die Hand“, sagt er auch schon, besorgt um mich.

      „Ich weiß nicht, wie ich das anstellen soll. Ich bin in einer Sackgasse“, antworte ich, hilflos dreinblickend.

      Doch der Professor wäre nicht der Professor, hätte er nicht eine Idee. Mit einem allwissenden Lächeln zieht er ein Kartenset aus seiner Jackentasche. Flink verstreut er dessen Inhalt auf meinem Küchentisch. Ein Gemenge an schwarzen, blauen, orangefarbenen, sowie weißen, grünen und rosafarbenen Karten breitet sich vor mir aus.

      „Du meinst, diese Karten erlösen mich von meinem inneren Druck?“, frage ich etwas belustigt.

      „Das sind spezielle Karten. Ein mexikanischer Schamane hat damit ein System entwickelt. Er benutzt sozusagen mithilfe der Karten die Kräfte des Unbewussten. Vertraue mir einfach. Schließe deine Augen und ziehe eine“, sagt er lachend.

      „Okay, ich hab‘ nichts zu verlieren“, gebe ich ein, meine Augen schließend.

      „Stelle währenddessen die Frage nach deinem Anliegen. Was ist dein Thema?“, gibt der Professor weitere Anweisungen.

      „Was ist aktuell mein Thema?“, frage ich laut in den Küchenraum hinein.

      Hiernach durchforste ich mit beiden Händen das bunt gemischte Gemenge an Karten vor mir auf dem Tisch. Da ist mir, als gäbe es in meinen Fingerspitzen der rechten Hand einen kleinen Sog. Ich greife mir die darunter liegende Karte. Noch bevor ich meine Augen öffne, entreißt sie mir der Professor.

      „Wusste ich es doch“, ruft er enthusiastisch aus.

      Ich starre ihn verständnislos an. Um was geht es? Endlich dreht er mir die Vorderseite der Karte zu, auf der ein Begriff zu lesen ist: Todessehnsucht.

       (18) „(…) Todessehnsucht, die eine Reaktion auf Enttäuschungen darstellt, ein Ringen mit dem Leben oder ein Verwünschen des Lebens. Diese Todesform wird zu einer Art Machtkampf, in dem du bewusst oder unterbewusst zur Selbstzerstörung getrieben wirst. Du hast das Gefühl, allein der Tod könne deinem Schmerz oder der von dir erfahrenen Erschöpfung wirklich ein Ende setzen. Tatsächlich aber stellt deine Todessehnsucht eine Gelegenheit dar, deine Lebensumstände genauerzu betrachten und eine Neugeburt zu erfahren, (…). “

      Das Resultat haut mich von den Socken. Ich spüre sofort den Wahrheitsgehalt dieser Karte. Sogleich fängt es an, in meinem Kopf zu arbeiten. Mein Hirn läuft auf Hochtouren, mein Blutdruck steigt. Wild klopft es an meinen Schläfen wie Trommelschläge. Und dann fällt es mir wie Schuppen von den Augen.

      „Schon seltsam. Ich denke jeden Tag an Suizid und war mir dennoch meiner Todessehnsucht nie bewusst.“

       (19) „(…) dass einem Menschen zugefügte Schmerzen den Effekt haben, im Gehirn dieses Menschen Gene zu aktivieren, die stark wirksame körpereigene Schmerzdämpfer (so genannte „endogene Opioide“ oder‚‚Endorphine‘) herstellen. “

      All die Jahre wusste ich nichts von den physischen Folgen sexueller Gewalt. Dass der Körper im Stress eigene Endorphine ausschüttet, die einerseits den Schmerz dämpfen, andererseits eine Spaltung herbeifuhren. Nun dämmert mir, warum ich mich wie ein Zombie fühle, so dumpf und leer. Obwohl ich mich wegen dieses Zustandes oft umbringen wollte, konnte ich genau deswegen keine suizidale Handlung vornehmen. Körpereigene Endorphine bewahrten mich sozusagen vor einer großen Dummheit.

      Ich stimme dem Professor zu. Ich sollte dringend etwas unternehmen, um endlich aus dieser Dissoziation herauszukommen. Ich sollte mich meiner Todessehnsucht stellen. In Wahrheit suche ich einen Neuanfang im Leben.

      „Kennst du jemanden, der mir dabei helfen kann?“, frage ich den Professor.

      „Ich will meinen Träumen nachgehen, die ich in der Kindheit hatte. Ich glaube, darin liegt eine wichtige Botschaft für mich verborgen, aber kein Psychotherapeut ging je darauf ein“, erkläre ich ihm, was ich brauche.

      „Eine Rückführung könnte helfen“, antwortet er prompt. „Ich kenne da einen, der gut ist. Wenn du magst, können wir das bei mir im Wohnzimmer machen.“

      Gleich am nächsten Tag telefoniere ich mit einem Schamanen-Novizen, der mir erfreulicherweise sofort einen Termin für meine erste Rückführung gibt.

      Ich liege rücklings auf dem grauen Teppich im Wohnzimmer des Professors. Neben mir befindet sich ein roséfarbenes Sofa, auf dem es sich der Schamanen-Novize im Schneidersitz bequem macht. Auf seinem Schoß liegt ein weißer Ringordner, den er mit gespitztem Zeigefinger durchblättert, auf der Suche nach dem richtigen Leitfaden für meine bevorstehende Rückführung.

      Er beginnt mit einer autogenen Übung, die mir bereits geläufig ist. Unverzüglich bin ich tiefenentspannt.

      „Ich bin ganz warm und schwer“, höre ich seine Stimme bereits aus weiter Entfernung. Es gibt nur mich und diese leere schwarze Leinwand hinter meinen geschlossenen Augenlidern. Dann beginnt auch schon die aktive Imagination.

      Ich sehe eine violette menschliche Gestalt. Ihr Rumpf ist abgesenkt, wodurch ihr Becken höher liegt als der Schultergürtel. Ihr Kopf neigt sich zu Boden. Diese seltsame Körperhaltung gleicht einem Sprinter, der auf einen Startschuss wartet.

      Und da schießt meine Traumseele in diesen violetten Läufer hinein, wie eine Pistolenkugel. Die Verschmelzung mit dieser lilafarbenen Gestalt ist also der Startschuss. Pfeilschnell, mit angelegten Armen, schießt es mich wie einen Bob-Fahrer ins weite Universum hinein.

      Danach sehe, höre und fühle ich nichts mehr.

      „Wo bist du? Und wie alt bist du?“, dringt nach einer Weile die Stimme des Schamanen-Novizen zu mir durch.

      Noch benommen von meiner ersten außerkörperlichen Erfahrung versuche ich, auf die beiden Fragen einzugehen. Dabei bemerke ich die bleierne Schwere, sowohl meiner Augenlider als auch meines Körpers. Ich kann weder meine Augen öffnen noch meine Gliedmaßen bewegen. Ich lenke meine Aufmerksamkeit wieder auf die Leinwand hinter meinen Augenlidern.

      Ich sehe im Close-up bleiche Füße, die auf dem Grund eines Gewässers stehen.

      Dann kapiere ich es. Die Füße gehören mir. Ich stehe bis zum Hals im Wasser eines großen Flusses. Mein Kopf hält sich gerade mal so über der Wasseroberfläche, weshalb ich meinen Blick auf eine Brücke richten kann. Sie befindet sich in kurzer Distanz zu mir und überspannt den Flusslauf. Das Viadukt erinnert mich an den Pont Neuf, eine berühmte Brücke in einer berühmten Hauptstadt.

      „Bin ich etwa in Paris in der Seine? Und wieso stehe ich bis zum Hals im Wasser?“, denke ich blitzschnell.

      „Ich begehe Selbstmord“, rufe ich laut aus.

      „Wie alt bist du?“, fragt der Schamanen-Novize.


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