Vergiss mein nicht!. Kasie West
dir danach besser gehen.«
Ich schnappte mir ein Kissen, zog es an die Brust und legte mich hin. Quer über der Zimmerdecke stand das Aristophanes-Zitat, das ich gemalt hatte: »Worte prickeln das Denken und entzücken den Geist.« Aus irgendeinem Grund stach es zwischen all den anderen Zitaten dort oben heraus. »Ich weiß nicht. Sechs Wochen sind ein langer Zeitraum. Ich fände es schrecklich, wenn so viele detailgetreue Erinnerungen da oben herumschwirren würden.«
»Wieso? Diese Woche bis zum Ehemaligenball war doch ziemlich abgefahren. Ich fand’s toll zu wissen, dass der Absatz meines roten Schuhs am Mittwoch nach der dritten Stunde abbrechen würde und dass wir am Freitag einen unangekündigten Test schreiben würden.«
»Stets zu deinen Diensten. Warum lote ich für dich nicht jede Alternative von jetzt bis zum Tod aus?«
»Ja, ganz im Ernst, warum eigentlich nicht?« Sie gab mir einen Klaps aufs Bein. »Wartest du auf mein Angebot oder machst du dich bloß lächerlich? Du weißt, dass ich die Alternative, für die du dich nicht entscheidest, löschen kann, du brauchst also nicht so zu tun. Manchmal frage ich mich, ob du mich bloß wegen meiner bewundernswerten Gabe als beste Freundin ausgesucht hast.«
»Ach. Dein Talent hat sich sowieso erst in der siebten Klasse gezeigt.« Ich schwieg kurz und drehte dann meinen Kopf. »Moment mal. Willst du damit etwa sagen, dass ich dein Talent zu oft ausnutze?«
»Sag ich nicht«, trällerte sie. »Und es stimmt. Du hast mich nicht wegen meines Talents ausgesucht. Du hast mich genommen, weil ich Timothy geschubst hab, als er dein virtuelles Haustier gestohlen hat.«
Ich lächelte und holte tief Luft. Ich verdrängte die Entscheidung. Ich war mir immer noch nicht sicher, ob ich es wirklich wissen wollte. Ob ich wirklich so weit war, erfahren zu wollen, wie mein neues Leben aussehen würde. Meine Eltern hatten zugegeben, dass der einzige Grund, warum sie die Entscheidung mir überlassen hatten, meine Gabe war. Warum sollte ich also nicht auf Nummer sicher gehen, welche Entscheidung sich als die bessere herausstellen würde?
»Bist du bereit?«, fragte Laila.
Ich nickte. Ich musste es wissen.
»Also, was soll ich machen? Einfach nur hier sitzen? Brauchst du irgendetwas?«
Ich lachte. »Nein, nicht nötig. Es könnte eine Weile dauern. Bist du dir sicher, dass du warten willst?«
»Bitte, das wäre ja genauso, als würdest du jemanden fragen, ob er das Zimmer verlassen möchte, während Picasso ein Meisterwerk malt.«
»Du vergleichst mich mit Picasso?«
»Du weißt, was ich meine. Jetzt fang an.«
Ich kuschelte mich tiefer ins Kissen und versuchte mich zu entspannen. Gar nicht so einfach, wenn einem klar ist, dass man gleich mit Erinnerungen von einem Leben überflutet wird, das man noch nicht gelebt hat. Genau genommen von zwei Leben, die man noch nicht gelebt hat. Laila würde es nur wie fünf Minuten vorkommen, für mich würde es sich aber wie ein Monat anfühlen. Ich konzentrierte mich auf das Kraftfeld um mich herum und alles verschwamm.
PARAdigma, das – etwas, das als Muster oder Vorbild dient
Sollte Kindern geschiedener Eltern nicht jeder Wunsch erfüllt werden, von wegen extremer Schuldgefühle auf beiden Seiten?«, frage ich beim Frühstück, eine Woche nachdem mein Dad ausgezogen ist. Das Haus fühlt sich anders an ohne ihn ... leer.
»Du bekommst kein neues Auto«, sagt meine Mutter von ihrem Platz am Küchentisch hinter ihrem Laptop. Ein Bleistift hält ihre blonden Locken in einem Knoten im Nacken zusammen und sie greift danach, um sich kurz etwas auf ihren Block zu notieren. Ihre Haare fallen ihr über die Schulter und erinnern mich daran, wie sehr sie meinen gleichen. Als ich gerade denke, dass sie mal wieder vergessen hat, dass wir uns unterhalten – was ihr oft passiert –, fügt sie hinzu: »Dein Auto fährt doch noch sehr gut.«
»Ich frage ja nicht, ob ich ein neues Auto haben kann. Bloß ein anderes. Meins fährt fast gar nicht mehr. Hast du dir mal die neusten Geräusche angehört? Klingt irgendwie nach einem Tock-tock-tock.«
»Sprich mit deinem Vater darüber.«
Ich nehme einen Löffel von meinen Kleieflocken mit Milch und beobachte, wie sie langsam wieder von meinem Löffel gleiten. »Wie schön. Wenigstens überspringen wir nicht den Probleme-werden-an-den-anderen-Elternteil-weitergegeben-Teil der Scheidung. Ich wusste doch, dass du mir nicht allen Spaß vorenthalten würdest.«
Mir ist klar, dass ich mich benehme wie ein verzogenes Kleinkind, aber ich kann nicht anders. Alle negativen Gedanken oder Widerstände gegen meine Mutter haben sich in meiner Brust gestaut wie eine fiese Bronchitis.
Zum ersten Mal seit Beginn unserer Unterhaltung sieht sie mich an. »Addie, jetzt mach mal einen Punkt. Ich meinte doch bloß, dass dein Vater mit seltsamen Autogeräuschen mehr anfangen kann als ich.«
Ich stehe auf, stelle meine Schüssel in die Spüle und schnappe mir meinen Rucksack. »Tja, ich würde Dad ja fragen, aber ich glaube nicht, dass mein Auto die fünf Stunden Fahrt bis zu seinem Haus schafft.«
»Wir werden das schon gemeinsam durchstehen«, ruft sie, als ich gehe.
»Und eines Tages wirst du begreifen, warum ich es getan habe«, beende ich ihren Satz für sie, während die Tür hinter mir zufällt. Ich hab keine Ahnung, wie oft sie diesen Spruch während der letzten Woche wiederholt hat. Wahrscheinlich hat sie gehofft, dass der »eine Tag« bei jedem Mal etwas näher rücken würde. Das Gegenteil ist der Fall.
Sobald ich in meinem Auto sitze, hole ich mein Handy aus der Tasche und wähle.
»Coleman«, meldet sich mein Dad.
Allein seine Stimme bringt mich zum Lächeln. »Haben die da draußen im Normland denn keine Anrufererkennung?«
»Doch, natürlich haben sie die.«
»Wie kommt es, dass du dich dann mit Nachnamen meldest, obwohl du weißt, dass ich es bin?«
»Gewohnheit. Wie geht’s?«
»Ganz gut. Mein Auto benimmt sich seltsam. Willst du mal hören?« Ich halte das Handy aus dem Fenster und drücke meinen Daumen auf das Starterfeld. Der Sitz und die Spiegel stellen sich automatisch auf mich ein und das Radio fängt an, meine vorprogrammierte Playlist zu spielen, die ich per Sprachsteuerung ausschalte. Aber der Motor springt stotternd an und kommt halbherzig auf Touren.
»Hörst du?«
»Ja, das klingt nicht gut. Ist es vollständig aufgeladen?«
»Ja.« Ich klopfe gegen das Armaturenbrett. Der grüne Balken, der normalerweise den Ladestand angibt, ist schon vor langer Zeit schwarz geworden. »Es hat die ganze Nacht geladen.«
»Hmm. Ich werde mal mit deiner Mutter darüber sprechen, okay?«
»Okay.«
Im Hintergrund höre ich eine halblaute tiefe Stimme und mein Dad sagt: »Danke, und hey, immer cool bleiben.«
»Hast du im Ernst gerade zu jemandem gesagt, dass er cool bleiben soll?«
»Warum auch nicht? Hier ist es heiß.«
Ich lache. »Wer war das?«
»Der Postbote. Hab gerade ein Päckchen bekommen. Aber egal, wir finden für dein Auto schon eine Lösung. Okay?«
»Ja. Ich sollte mal lieber los zur Schule. Bis spä... ich meine ...«
Ich kann den Satz nicht aussprechen. Bis in einem Monat zu sagen, das klingt falsch.
»Addie«, sagt mein Dad mit seiner weichen Stimme. »Es wird nicht lange dauern. Bevor du bis drei zählen kannst, sehen wir uns wieder.«
Ich murmle nur etwas und lege auf.
Auf