Sophienlust Paket 3 – Familienroman. Patricia Vandenberg
Kai?« Barbara hielt ihm freundlich die Tür auf. »Wird es doch noch etwas mit der Radtour? Ist es nicht schon zu spät?«
Er nickte wie ein Alter. »Ja, aber ich wollte Robin zum Fußballspielen abholen. Bei uns im Garten ist es ja auch ganz schön.«
»Wird euer Lärm nicht deine Mutter stören?«
»Sie ist nicht meine Mutter, Frau Withner. Sie ist meine Stiefmutter«, antwortete er schroff.
»Also gut, deine Stiefmutter«, berichtigte Barbara sich. »Aber der Lärm bleibt doch der gleiche, egal, wie du sie nennst. Nicht wahr? Robin hat mir erzählt, dass sie sich nicht wohlfühlt.«
»I wo«, erklärte Kai und sah sich nach seinem Freund um, »jetzt ist sie schon wieder ganz obenauf und probiert Kleider an. Wie immer.«
Barbara unterdrückte ein Lächeln. Es werden wohl Umstandskleider sein, dachte sie im Stillen.
Gleich darauf war sie allein. Die beiden Jungen waren abgezogen, um im Garten der großen Platen-Villa zu trainieren, wie sie es nannten.
Der Samstagnachmittag bestand für die junge Direktrice Barbara Wirthner allwöchentlich aus eifriger Hausarbeit, denn an den anderen Tagen der Woche war sie viel zu müde dazu. Außerdem musste sie sich nach Geschäftsschluss immer noch um Robin, seine Schulaufgaben, um das Essen und um die anderen kleinen Dinge kümmern, die das Leben einer ledigen Mutter so mit sich brachte. Manchmal fiel ihr das schwer. So auch an diesem Tag. Aber da sie Peter erwartete und sich auf ihn freute, überwand sie ihre Müdigkeit und setzte die Arbeit fort, die Robin begonnen hatte.
Als Barbara das Zimmer ihres Sohnes säuberte, stieß der Staubsauger gegen einen harten Gegenstand unter Robins Bett. Dann ertönte ein merkwürdig gluckerndes Geräusch.
Barbara stellte den Staubsauger ab und bückte sich. Gebannt starrte sie auf die Flasche, die unter dem Bett hervortrudelte. Als sie sie in die Hand nahm, setzte ihr Herzschlag aus. Auf dem Etikett prangte ihr in schön verzierten Buchstaben das Wort ›GIN‹ entgegen.
Barbara konnte es nicht glauben. Sie öffnete den Verschluss und roch an der Flasche. Tatsächlich, es gab keinen Zweifel. Robin hielt eine Flasche des starken Wacholderschnapses unter seinem Bett versteckt.
Die schlanke Frau erhob sich ungewöhnlich schwerfällig. Mit ihrem merkwürdigen Fund in der Hand setzte sie sich in den nächsten Sessel und starrte darauf, als hätte sie noch nie eine Flasche Gin gesehen.
Sie selbst hatte nichts von dem hochprozentigen Zeug im Haus. Peter Knoll liebte nur Whisky und Cognac. Woher hatte Robin die Flasche? Von einem Klassenkameraden? Von Kai Platen etwa? Oder bekam er zu viel Taschengeld, so dass er sich so teure Dinge selbst kaufen konnte?
Barbara wusste nicht, wie ihr geschah. Plötzlich legte sie die Flasche auf ihren Schoß, stützte ihre Arme darauf und begann zu weinen.
Jahrelang war alles gutgegangen mit Robin. Sie war so stolz gewesen, nicht auf die Hilfe eines Mannes angewiesen zu sein. Sie hatte es trotz des Kindes geschafft, eine gutbezahlte Position in einem Konfektionsbetrieb auszufüllen, hatte sich nebenher immer liebevoll und verantwortungsbewusst um Robin gekümmert. Aber nun? Begannen nun erst die wirklichen Schwierigkeiten? War Robin jetzt plötzlich doch den Gefahren der Großstadt ausgesetzt und brauchte eine strengere Hand?
Barbara atmete tief durch und schüttelte sich, als schäme sie sich. Eigentlich war Robin ein guter Junge, überlegte sie. Es war nicht nötig, nur wegen einer kleinen Erziehungsschwierigkeit nach einem geeigneten Vater für ihn Ausschau zu halten und sich wieder von einem Mann enttäuschen zu lassen.
Barbara erhob sich, trug die Flasche in die Küche und starrte aus dem kleinen Fenster in den düsteren Hinterhof. Ihre grau-grünen Augen wirkten traurig. Der einzige Mann, den sie lieben könnte, wäre Peter Knoll. Aber Robin konnte ihn nicht leiden. Und obwohl er diese Abneigung nicht begründen wollte, war es nicht die einzige Frage, die ungelöst im Raum stand. Denn auch Peter Knoll schien nicht geneigt zu sein, sich fest an sie zu binden. Barbara kannte ihn nun schon über ein halbes Jahr, aber noch nie hatte er auch nur eine Andeutung darüber gemacht, wie gern er ganz zu ihr gehören möchte.
Mit einem verärgerten Gesicht sah Barbara die Flasche an. Welcher Mann setzte sich auch freiwillig den Schwierigkeiten aus, die die Erziehung eines solchen Schlingels wie Robin mit sich brachte?
Wieder klingelte es. Diesmal schritt Barbara langsamer zur Tür. Die Flasche hatte sie flink hinter ihrem Rücken verborgen. Sie wusste, es konnte nur Robin sein.
»Also, die Stiefmutter von Kai ist eine richtige Nörgeltante, Mami«, begrüßte er sie aufgebracht. »Erst sollen wir im Garten spielen, dann rennt sie im Abendkleid zu uns auf den Rasen und schreit wie wild. Und mit den Armen gefuchtelt hat sie auch. Wie eine Furie.«
»Das tue ich auch gleich, Robin.« Barbara hatte ihren Sohn ausreden lassen, hielt ihm aber nun die Ginflasche vor die Nase. Ihr Gesicht war nicht nur fragend. Es war ebenso wütend wie das von Kais Stiefmutter, aber doch ein wenig lieber. So abstoßend wie diese Frau Platen konnte Barbara gar nicht sein.
»Ach, sooo«, gab Kai gedehnt zurück, »du hast die Flasche gefunden. Das macht doch nichts, Mami. Ich trinke jeden Abend einen kleinen Schluck. Kai tut das auch. Wegen seiner Stiefmutter. Sonst kann er nämlich nicht einschlafen.«
Barbara blieb die Luft weg. »Was soll das heißen?«, fuhr sie Robin an. »Kannst du vielleicht auch nicht einschlafen? Bin ich auch deine böse Stiefmutter, die im Abendkleid mit den Armen fuchtelt und wie wild schreit?«
Hilflos hob er die Achseln. »Nö. Eigentlich nicht, aber trotzdem … Es ist doch nichts dabei.« Seine dunklen Augen blickten sie unsicher an. »So was tun viele. Wenigstens ein bisschen …«
»Wer tut das?«, wollte sie wissen. Dabei stemmte sie ihre Fäuste auf die Hüften, so dass sie trotz ihres elegant schwingenden grünen Rockes wie eine furchteinflößende Erzieherin aussah.
»Die …, die auf der Schule. Von denen hat Kai das ja auch gelernt.«
»Hm.« Das war alles, was Barbara hervorbrachte. Sie ging in die Küche und goss den Gin in den Abfluss. Sie musste die ganze Sache überdenken. Sie wollte nicht zu streng sein, um ihren Sohn nicht in eine Trotzhaltung zu zwingen.
»Wenn das dein Freund Peter sähe«, bemerkte Robin mit einem Blick auf den Schnaps, der gluckernd verschwand. »Dem würden die Augen tränen.« Er lehnte sich gegen den Pfosten der Küchentür und sah lässig zu, wie sein ganzes Taschengeld dahinfloss.
»Wieso?« Barbara sah ihren frechen Sohn verdutzt an.
»Na ja, der gießt sich doch auch sehr gern einen hinter die Binde. Viel mehr als ich. Aber ihm bezahlst du die Flasche ja auch.«
Barbara bemühte sich um Haltung. Das passierte ihr selten, denn zu ihrem heiteren Wesen und ihrer burschikosen Art gehörte auch eine selbstverständliche damenhafte Disziplin. Nun jedoch war sie erschüttert. Sie fühlte sich elend, so elend, dass sie am liebsten geweint hätte.
*
Einer der ersten lauen Frühlingstage ging dem Ende zu. Noch jetzt am frühen Abend lag ein wohltuend milder Hauch der erwärmten Luft in den Straßen. Es roch nach frischem Grün und feuchter Erde.
Barbara Wirthner hatte das Fenster des Wohnzimmers geöffnet und sah melancholisch in die Dämmerung. Sie hatte Robin früh zu Bett geschickt, um von Anfang an mit Peter Knoll allein sein zu können. Ihr Sohn sollte auch gar nicht auf die Idee kommen, an ihrem abendlichen Spaziergang teilzunehmen, denn Barbara musste unbedingt jemanden um Rat fragen. Peter sollte an den Schwierigkeiten teilnehmen, die sie seit diesem Tag auf sich zukommen sah. Behauptete er nicht immer, sie sei der einzige Mensch, mit dem er alles teilen könnte?
Es klingelte. Barbara eilte zur Tür. Im Vorbeigehen prüfte sie den Sitz ihrer modischen Kurzhaarfrisur, ordnete ihre sportliche Bluse und schob die Schnalle ihres Gürtels an den rechten Platz. Dann erst öffnete sie.
Peter strahlte sie an. Sein braun gebranntes Gesicht, sein Lächeln zeugten von hervorragender Laune. Barbara war auch diesmal wieder überrascht,