Sophienlust Paket 3 – Familienroman. Patricia Vandenberg
Atem war.
»Du legst wirklich ein tolles Tempo vor, Tante Reni«, äußerte sie, ihre Erregung so gut wie möglich bezwingend. »Wollen wir uns jetzt nicht ein bisschen ausruhen?«
Reni von Hellendorf sah Irmela an wie eine Fremde. »Ausruhen? Das nützt nichts, ich muss Gitti finden. Bodo hat sie entführt. Wenn wir nicht achtgeben, wird er sie in den See werfen und ertrinken lassen.«
Der bildhübschen Arzttochter wurde die Kehle seltsam trocken. Sie hat den Verstand verloren, dachte Irmela. Was soll ich jetzt tun? Ich brauche einen Arzt, schoss es ihr durch den Kopf.
»Willst du nicht mit mir nach Sophienlust zurückkommen, Tante Reni?«, fragte sie unsicher. »Du siehst doch, dass das Kind nicht hier ist.«
»Vielleicht hat sich Bodo versteckt.«
»Wir können nachsehen, Tante Reni. Aber ich glaube nicht, dass hier jemand ist.«
Reni verlor plötzlich das Interesse an der Suche. »Wir müssen Dr. Volkert fragen. Er ist sehr klug«, flüsterte sie. »Komm, reiten wir zurück!«
Schon wieder schlug sie das Pferd und schoss mit Pfeilgeschwindigkeit davon. Irmela blieb nichts anderes übrig, als ihr zu folgen. Immerhin ging es jetzt auf Sophienlust zu. Das war besser als der erste Ritt mit einem völlig unbekannten Ziel.
Pünktchen saß nicht mehr vor dem Haus, als die beiden Reiterinnen in scharfem Trab vorbeikamen.
»Stellen wir die Pferde ein?«, fragte Irmela unruhig.
»Ja, aber schnell. Wir dürfen keine Zeit verlieren. Man muss die Polizei einschalten, ehe es zu spät ist.«
Wo steckt Pünktchen nur, dachte Irmela verzweifelt. Wie soll ich das allein schaffen?
Erst nachdem Reni abgesessen war und sogar geholfen hatte, den beiden Pferden Sattel und Zaumzeug abzunehmen, fühlte sich das junge Mädchen etwas beruhigt. Nun konnte die Kranke wenigstens nicht mehr wie der Teufel davonreiten.
In raschem Schritt strebten die beiden auf das Haus zu. In einiger Entfernung scharrte das Hühnervolk. Die kleinen gelben Küken liefen fröhlich im Sonnenschein umher. Zu Irmelas grenzenloser Erleichterung achtete Reni nicht darauf.
»Kannst du Dr. Volkert anrufen, Irmela?«, fragte Reni atemlos.
»Ja, natürlich. Ich muss nur die Nummer heraussuchen.«
»Ich habe sie. Sage Dr. Volkert, dass er gleich kommen muss. Oder nein, zuerst soll er sich mit der Polizei in Verbindung setzen. Man kann ihm das überlassen. Die Leute hören auf ihn.« Renis Stimme überschlug sich.
»Ja, Tante Reni.«
Irmela hatte sich nun etwas gefasst. Sie ist krank, und ich habe die Verantwortung, sagte sie sich und kämpfte ihre Furcht nieder.
Gemeinsam mit Reni ging sie in deren Zimmer und ließ sich die Telefonnummer von Dr. Volkert geben.
»Wilst du hier warten, Tante Reni?«, fragte sie. »Ich bin gleich wieder bei dir.«
»Ja, Irmela. Ich lege mich ein bisschen hin. Der Kopf tut mir wieder weh. Das Reiten war doch zu anstrengend. Aber was sollte ich tun? Ich muss Gitti suchen. Sage Dr. Volkert, dass sie bei Bodo ist.«
Irmela wusste, dass dies der Vorname von Renis Mann war. Sie eilte ins Büro, das sie glücklicherweise unverschlossen fand, und wählte die Nummer aus Renis Notizbüchlein. Diesmal war Ulrich Volkert sofort am Apparat.
Irmela bemühte sich, das Geschehene so klar wie möglich zu schildern. Der Arzt stellte ein paar knappe Fragen. »Ich setze mich sofort ins Auto, Irmela. Geh inzwischen zu Frau von Hellendorf und unterhalte dich mit ihr. Du brauchst keine Angst zu haben. Sie wird dir nichts tun. Aber man muss achtgeben, dass sie nicht fortläuft.«
»Ich fürchte mich nicht, Herr Doktor«, antwortete Irmela tapfer. »Mein Vater war Arzt, und ich selbst will ebenfalls Medizin studieren. Deshalb bin ich ja in Sophienlust und nicht bei meinen Eltern in Bombay.«
»Da bist du also schon fast eine Kollegin. Du hast deine Sache bisher sehr gut gemacht, Irmela. Nun musst du nur noch aushalten, bis ich da bin.«
»Sie können sich auf mich verlassen, Herr Doktor.«
Irmela legte den Hörer auf und nahm zwei Treppenstufen auf einmal, als sie zu Reni zurückkehrte. Sie fand die junge Frau in einer Art Dämmerschlummer. Nicht einmal die Reitstiefel hatte sie ausgezogen, ehe sie sich aufs Bett gelegt hatte.
»Kommt er?«, fragte Reni mit matter Stimme. »Er ist der einzige Mensch, der mir jetzt helfen kann.«
»Er ist schon unterwegs.«
Irmela blieb am Fenster stehen und hielt Ausschau, obwohl sie wusste, dass der Arzt unmöglich so schnell kommen könnte. Das liebe alte Haus war vollkommen still. Irmela konnte sich nicht erinnern, dass sie sich jemals hier so allein gefühlt hatte. Sie schluchzte einmal und warf einen scheuen Blick zum Bett. Reni von Hellendorf lag mit geöffneten Augen und starrte zur Decke.
Vielleicht muss er sie wegbringen, überlegte Irmela. Ohne Manuela wird Tante Reni hier verzweifeln. Aber man kann den netten Leuten aus Spanien doch nicht ihr Kind wegnehmen. Wie soll der Doktor da einen Ausweg finden?
Die Minuten verstrichen unendlich langsam. Irmela wagte es nicht, sich zu rühren oder zu sprechen. Nach einer halben Stunde sah sie Pünktchen unter dem Fenster vorübergehen und ihr fröhlich zuwinken. Irmela legte den Finger auf die Lippen.
Pünktchen verstand und unterdrückte den Ausruf, den sie schon auf den Lippen gehabt hatte. Wie gern hätte Irmela jetzt ein paar Worte mit Pünktchen gesprochen. Doch sie musste auf ihrem Posten bleiben, bis der Arzt kam.
Endlich fuhr das Auto vor. Reni hob sofort den Kopf. »Ist er das? Hat er Gitti gleich mitgebracht?«
»Ich weiß es nicht, Tante Reni.« Irmela war am Ende ihrer Selbstbeherrschung. Die Tränen liefen ihr über die Wangen. Doch Reni bemerkte das glücklicherweise nicht.
Der Arzt kam und beugte sich besorgt über seine Patientin, die ihm beide Hände entgegenstreckte.
Irmela verließ das Zimmer. Völlig erschöpft setzte sie sich auf die Treppe und ließ ihren Tränen freien Lauf.
Nach etwa zehn Minuten trat Ulrich Volkert wieder aus Renis Zimmer. »Sie schläft jetzt, Irmela. Ich habe ihr ein starkes Beruhigungsmittel injiziert.«
»Und wenn sie wieder aufwacht?«, rief Irmela ratlos aus. »Sollten wir nicht am besten Manuela zurückholen? Man muss Tante Reni doch helfen?«
Ulrich Volkert setzte sich neben Irmela auf die Treppe und nahm deren Hand. »Nein, liebe Kollegin, das wäre jetzt ein grundlegender Fehler«, sagte er, als spreche er tatsächlich zu einer erwachsenen Ärztin. »Frau von Hellendorf hat einen schweren Verlust erlitten und wehrt sich dagegen, diesen hinzunehmen. Sie hat sich eine Scheinwelt errichtet. Aber damit ist nichts besser geworden. Die Begegnung mit dem kleinen Mädchen aus Spanien, das ihrer eigenen Tochter ein bisschen ähnlich sieht, war nicht gut für sie. Wir dürfen das nicht noch einmal versuchen.«
»Muss sie ins Krankenhaus?«
»Ich glaube nicht. Wir werden ihren Mann rufen.«
»Sie sagt, dass sie ihn nicht sehen will.«
»Aber sie muss ihn sehen, Kollegin. Es ist unsere einzige Chance. Sie behauptet, das Kind sei bei ihm. In Wirklichkeit möchte sie selbst endlich wieder dorthin zurückkehren, wo ihre Heimat ist.«
Draußen hörte man fröhliche Kinderstimmen. Schwester Regine kam mit den kleinen Bewohnern von Sophienlust ahnungslos vom Spaziergang zurück.
Irmela ging der Kinderschwester entgegen. Der Arzt folgte ihr. Plötzlich war das Haus wieder von Leben erfüllt.
Ulrich Volkert rief in Hellendorf an. Bodo kam selbst an den Apparat. Der Arzt erzählte ihm, was sich in Sophienlust ereignet hatte, und fuhr fort: »Zwar ist das alles erschreckend, Herr von Hellendorf, doch erblicke ich darin eine gewisse Chance. Es wäre wichtig, dass Sie herkämen,