Sophienlust Paket 3 – Familienroman. Patricia Vandenberg
die einer Katze. »Mein Sohn ist fort, Herr Platen. Er ist der einzige Mensch, den ich habe! Da soll ich ruhig sein, wenn er mitten in der Nacht verschwindet?«
Kais Vater legte den Arm um Barbaras Schulter und führte sie ins Wohnzimmer, als kenne er sich in ihrer Wohnung aus. Behutsam setzte er Barbara in einen Sessel und schaltete schweigend die Tischlampe ein. Dabei fiel sein Blick auf zwei Cognacschwenker, die leer neben einer noch halb gefüllten Flasche standen.
Robin ist also nicht der einzige Mensch, den sie hat, durchfuhr es ihn. So etwas wie Ärger stieg in ihm auf.
»Sie sind zu zweit fort, Frau Wirthner«, sagte er laut und ergriff ihre Hände, die sie nervös rang. »Das bedeutet, dass sie einen ganz gewöhnlichen Bubenstreich aushecken. Ich bin ganz sicher, dass sie zurückkommen. Schließlich habe ich in meiner Jugend auch so etwas gemacht.«
Barbaras Augen wurden zu Schlitzen. Sie fasste nach einem der Gläser und füllte sich einen großen Schluck Cognac ein, ohne Thomas zu beachten.
»Darf ich auch einen Schluck haben?«, fragte er nicht ohne Ironie. Er wartete ihr Antwort nicht ab, sondern erhob sich und trat an den Schrank. Es war der falsche. In ihm befanden sich nur Teller und Tassen.
»Gleich nebenan sind die Gläser.« Barbara sagte es nun wieder ruhig. Die Gegenwart dieses Mannes glich etwas in ihr aus, eine ungeahnte Spannung. Sie fühlte so etwas wie eine tiefe Gemeinsamkeit mit ihm. Es ist die Sorge um die beiden Jungen, überlegte sie und wischte damit die Gedanken und das zärtliche Empfinden in sich aus.
Dann aber meinte sie: »Wo mögen sie sein? Ob ihnen etwas geschehen ist? Wollen wir nicht die Polizei rufen?«
Kais Vater hielt ein Glas in der Hand. Während er es füllte, schüttelte er den Kopf und antwortete: »Nein. Zwei Jungen geschieht nichts. Ich wette mit Ihnen, dass unsere Großstadtpflanzen morgen wie üblich in der Schule sitzen.«
»Sie haben sehr viel Vertrauen zu Kai, Herr Platen.«
»Ja. Trotzdem bin ich entschlossen, ihn in ein Kinderheim zu geben.«
Er goss den Cognac hinunter, als müsste er damit seine Entschlusskraft beweisen, aber Barbara erkannte, wie schwer ihm diese Entscheidung sein musste.
»Ist das nicht herzlos, Herr Platen? Sie behaupten, die gleichen Dummheiten in Ihrer Jugend gemacht zu haben, und wollen Kai für dieses Vergehen fortschicken? Fort von seiner Familie? Fort von seinen Spielkameraden?«
Thomas sah sie an. In ihrem hellblauen Morgenrock wirkte sie jung und zerbrechlich. Ihr ungeschminktes Gesicht strahlte Ehrlichkeit und eine Natürlichkeit aus, die sein Herz rührte.
»Bei mir war es ganz anders, Frau Wirthner. Ich hatte einen Vater, der sehr viel zu Hause arbeitete und eine Mutter, die ihr Temperament nicht nur auf der Zunge sprechen ließ.« Er machte eine Handbewegung, die einen kräftigen Klaps andeutete. »Mit ihrer liebevollen Erziehung und ihrer Strenge war ich gegen alle schlechten Einflüsse gefeit, obwohl ich es faustdick hinter den Ohren hatte. Aber Kai fühlt sich unglücklich. Er ist noch zu jung, um auf den Zustand meiner Frau tagtäglich Rücksicht nehmen zu können.«
Ein beklemmendes Schweigen breitete sich zwischen ihnen aus. Barbara erhob sich. Sie musste sich bewegen, um nicht zu zeigen, welche Kämpfe in ihrem Innern tobten. Mit einem verzweifelten Gesicht lehnte sie sich an die Wand und blickte ratlos nach oben.
»Auch ich kann meinem Sohn keine heile Welt bieten«, meinte sie. »Wie gern würde ich mich um die beiden Jungen kümmern. Sie haben doch ein gutes Herz, sind gescheit und zärtlich …«
»Warum schließen Sie sich meinem Entschluss nicht an, Frau Wirthner? Es wäre für die beiden Freunde wunderbar, wenn sie gemeinsam nach Sophienlust kämen. Dort sind sie in guten Händen. Es muss ja nicht für immer sein.«
Barbara wich seinem Blick aus und sah zu Boden. »Dann bin ich ganz allein, Herr Platen.«
Als sie aufsah, bemerkte sie, dass Thomas auf die beiden Gläser blickte und seines langsam dazustellte.
Barbara biss sich auf die Lippen. Ja, sie war unbewusst unehrlich gewesen, denn sie hatte ja noch Peter Knoll. Vielleicht würde er sein Verhalten ihr gegenüber ändern, wenn Robin nicht mehr da sein würde?
»Und in den Ferien?«, fragte sie. »Was ist dann? Ich habe nur drei Wochen Urlaub im Jahr.«
»In den Ferien werde ich mich um die Jungen kümmern, Frau Wirthner …« Thomas sprach nicht weiter, weil Barbara ihm ein Zeichen machte. Draußen hatte sie ein Geräusch gehört. Eine Tür war zugeklappt worden.
Sie unterhielten sich noch eine Weile, bis es ganz still in der Wohnung war. Als Thomas Platen sich verabschiedete, wusste er, dass auch sein Sohn heil zurückgekehrt war. Erleichtert lächelten die beiden Erwachsenen sich an.
»Bleiben Sie trotzdem bei Ihrem Vorhaben, Kai nach Sophienlust zu schicken, Herr Platen?«
»Ja. Aber nur, wenn Sie mitmachen.«
Sie nickte. Dann schloss sie die Tür und lehnte sich aufatmend dagegen. Was für ein köstliches Gefühl, mit seinem Kummer nicht allein zu sein.
*
Frau Rennert öffnete eine Tür und sagte: »Das wird jetzt euer Zimmer sein. Gleich nebenan wohnt Nick von Wellentin-Schoenecker. Ihr werdet ihn heute Nachmittag noch kennenlernen.«
Kai und Robin wechselten einen vielsagenden Blick. Warum sollten sie Nick von Wellentin-Schoenecker kennenlernen? Sie hatten gar kein Interesse daran.
»Wer hat denn unsere Koffer hochgebracht?«, fragte Kai die Heimleiterin. Die großen Gepäckstücke fielen ihm als erstes ins Auge, obwohl das Zimmer freundlich und gemütlich eingerichtet war.
Frau Rennert lächelte. »Unser Justus, Kai.«
»Hm.«
Kai Platen und Robin Wirthner waren zu einem ungünstigen Zeitpunkt in Sophienlust angekommen, nämlich am Vormittag, zu einer Stunde, da alle Kinder ihres Alters auf der Schulbank saßen. Unglücklicherweise war auch Denise von Schoenecker nicht da gewesen.
Die beiden Jungen kannten Sophienlust noch nicht. Sie hielten die Ruhe in dem großen Haus für ganz normal. In ihrer Fantasie hatte sich ein ganz bestimmtes Bild von dem Kinderheim festgesetzt, in das ihre bösen Eltern sie abgeschoben hatten.
»Soll ich euch beim Auspacken helfen?«, fragte Frau Rennert.
»Wir sind doch nicht krank«, gab Robin patzig zur Antwort.
»Das hoffe ich auch.« Frau Rennert lächelte mütterlich. Dann verließ sie das Zimmer.
Kaum hatte sich die Tür hinter ihr geschlossen, ließen Robin und Kai sich auf ihre Betten fallen und starrten verärgert Löcher in die Luft.
Der Chauffeur von Thomas Platen hatte sie hergefahren. Sie wussten zwar, dass es nicht die Absicht von Barbara und Thomas gewesen war, sie so lieblos hier abzuliefern, aber sie grollten ihnen trotzdem.
»Es ist ja alles unheimlich schnell gegangen«, stöhnte Kai und wälzte sich hin und her. »Dabei wissen sie bis heute nicht, was wir in der Nacht entdeckt haben.«
»Nein. Das wissen sie nicht«, bestätigte Robin. »Aber sie haben sich kennengelernt und sind sich über uns einig geworden. Und Einigkeit macht bekanntlich stark.«
Robin richtete sich ein wenig auf. Das Zimmer gefiel ihm. Dass er es mit Kai teilen sollte, fand er wunderbar.
Ein leichter Luftzug wehte durchs Fenster herein. Mit ihm kam ein ländlicher Duft zu den Jungen. Es roch nach Tieren und frischem Gras. Die bunten Gardinen bauschten sich, als wollten sie die beiden Jungen auf ihr hübsches Muster aufmerksam machen. Rechts und links neben dem Fenster standen zwei Schreibtische, über ihnen hingen Borde an der Wand. Neben Kais Bett stand ein großer Kleiderschrank, ihm gegenüber war eine kleine Sitzgruppe.
Ein idealer Platz zum Schachspielen, dachte Robin.
Kai lag noch immer wie erschöpft auf seinem Bett. Seine Miene drückte eine üble Unlust aus. Von seinem Gesicht