MACHETE - Der Passat-Killer von Hawaii. Robert W. Walker

MACHETE - Der Passat-Killer von Hawaii - Robert W. Walker


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Bei dem Buch handelte es sich um Shakespeares Sonette, die Zeilen waren aus dem Sonett Nummer 84, und als Parry sie vorlas, fühlte er sich davon sofort ergriffen:

       Die Sommerblum’ erfreut die Sommerwelt,

       Und müßt’ auch einsam sie für sich verblühn:

       Doch wenn die Blum’ ein gift’ger Tau befällt,

       Wär’ ihr das ärmste Unkraut vorzuziehn.

       In Sauerstes kehrt Süßestes sein Wesen.

       Unkraut riecht lieblicher als Lilien, die verwesen.

      Parry blätterte durch das Buch und sah, dass noch andere Zeilen unterstrichen waren. »Keine Zeit für eine Lesung, Chief«, sagte Gagliano. »Die Leute hier werden uns vermutlich gleich rauswerfen.«

      Parry steckte das Buch in die Tasche und durchsuchte weiter das Zimmer des Mädchens. Er fand nichts Ungewöhnliches, Erhellendes oder Hilfreiches. Gagliano wühlte die Schublade mit der Unterwäsche durch, als der Vater in der Tür erschien.

      Parry trat zwischen sie und fragte: »Traf sich Ihre Tochter mit jemandem? Ich meine, hatte sie einen Freund?«

      »Sie war zu ernst für die meisten Jungen. Sie wollte zuerst das College beenden. Keine Jungs, abgesehen von George, aber sie hat sich von ihm getrennt.«

      Beide Männer vom FBI machten sich sofort Gedanken über diesen George und ob das Ganze vielleicht nur ein Streit unter Liebenden war und Linda morgen wieder daheim auftauchen würde.

      »Hat dieser George auch einen Nachnamen, Sir?«, fragte Gagliano.

      Der Vater sah verwirrt aus und rief nach seiner Frau wegen des Namens.

      »Oniiwah, George Oniiwah«, stöhnte sie durch das Fenster von der Veranda aus, auf der sie sitzen geblieben war.

      Der Vater wiegelte ab. »Aber sie waren nicht lange zusammen.«

      Parry dachte sofort, dass der Junge ein Hawaiianer war, als er Georges Nachnamen hörte, da es ein gebräuchlicher Name auf der Insel war. Viele aus das Oniiwah-Familie waren durchaus wohlhabend. »Wissen Sie, wo dieser George Oniiwah wohnt?«

      Der Vater rief nach seiner Frau, die etwas auf Portugiesisch murmelte, bevor er den Straßennamen und die Hausnummer sagte. Die Adresse war in einer weit besseren Gegend der Stadt. Die beiden hatten sich in ihrem ersten Jahr an der Universität kennengelernt, sagte er. »Aber Lina hat es beendet, als er was Ernsteres wollte.«

      »Was Ernsteres?«

      »Sie wissen schon, heiraten, ein Haus, Kinder.«

      Die Mutter kam herein und stand im Zimmer ihrer vermissten Tochter. In den Händen hatte sie einen Stapel Papier und ein kleines Buch, die medizinischen Unterlagen. Parry nahm sie mit einem ehrlich gemeinten Dankeschön entgegen und Gagliano nutzte den Moment, um zu sagen, dass sie ein anderes Mal wiederkommen würden. Der Vater wollte protestieren, verstummte jedoch. Parry und Gagliano wünschten den aufgelösten Eltern eine gute Nacht. Nachbarn standen mittlerweile vor dem Bungalow und dem zivilen Wagen des FBI, um ihre Unterstützung für die trauernde Familie zum Ausdruck zu bringen. Parry fragte sich, wo George war, und er fragte Lindas Vater, ob der Junge sich seit dem Verschwinden gemeldet hatte. Die Antwort war Nein.

      Gagliano sah Parry an, der wusste, was Sache war. »Wir werden Georgie-Boy wohl vorladen müssen und ihm ein paar Fragen stellen.«

      »Morgen, Tony«, entgegnete Jim Parry, dem schon die Augen schwer wurden und der angestrengt auf das Ziffernblatt seiner Uhr starrte und blinzelte – es war bereits ein Uhr morgens. Es war ein vollgepackter Tag gewesen. Er klopfte auf das Buch in seiner Tasche und sagte: »Ich gehe heim, muss ein wenig lesen und schlafen. Wir sehen uns morgen.«

      Plötzlich rief eine der besorgten Nachbarinnen, eine dicke hawaiianische Frau, die auf Parry zukam wie ein Rhinozeros, mit dröhnender Stimme, die selbst Gagliano beeindruckte: »Ihr Bastarde findet besser die kleine süße Lina und bringt sie ihrer Mama zurück, verstanden, Mr. FBI-Mann? Wenn nicht, dann wird es hier in Oahu für euch sehr ungemütlich werden.«

      »Drohen Sie gerade Chief Parry, Lady?«, entgegnete Gagliano, aber Parry hielt die Hand beschwichtigend hoch und rief der Menge zu: »Wir werden alles in unserer Macht Stehende tun, um das Mädchen zu finden, aber wir haben keine Zauberkräfte. Wir können keine Wunder wirken.«

      Im Grunde hatte er ihnen damit mitgeteilt, dass das Mädchen tot war. Parry und Gagliano stiegen jeder in sein Auto und verschwendeten keine Zeit, von dort wegzukommen, fuhren jedoch im Schneckentempo an, um zu sehen, ob die Menge ihnen Steine hinterherwerfen oder jemand mit einer Waffe auf sie schießen würde. Beide Männer waren erleichtert, als nichts weiter passierte. Parry sah noch bis zur nächsten Kreuzung immer wieder in den Rückspiegel, er war genauso frustriert und wütend wie müde.

      Kapitel 6

       Philosophie steht geschrieben in diesem großen Buch – ich meine das Universum – das ständig unserem neugierigen Starren offensteht, aber es kann nicht verstanden werden, wenn man nicht zuerst seine Sprache versteht und die Buchstaben interpretiert, in denen es geschrieben ist … Galileo

      Jessica war wach geblieben und hatte sich über Satellit die Tonight Show mit Jay Leno angesehen, aber das war für sie nur Hintergrundrauschen, da sie sich auf die Akten konzentrierte, die ihr James Parry dagelassen hatte. Jedes Foto und die biografischen Informationen erzählten von einer jungen Frau, die eigentlich noch ihr ganzes Leben vor sich hatte. Jedes der Opfer hatte eine große Familie gehabt, manche hatten bereits selbst Kinder. Die typischen Prostituierten, die man in der Großstadt erwarten würde. Sie waren noch nicht verhärmt oder heruntergekommen und sahen nicht aus, als wurden sie verprügelt. Sie hatten auch kein Übergewicht oder waren magersüchtig. Keine gebrochenen Nasen, Narben oder Pickel und die meisten sahen nicht so aus, als hätten sie Drogen genommen, der Blick klar und lebhaft, zeugte von Seelen voller Leben und Interessen. Mehrere – wie Parry bereits gesagt hatte – hatten es nur nebenher gemacht, um ihr Einkommen aufzubessern, während sie an der Universität studierten, und andere waren keine Prostituierten und waren das letzte Mal an ihrem normalen Arbeitsplatz gesehen worden.

      Linda Kahala, auch als Lina bekannt, halb Portugiesin und halb Hawaiianerin, war eine dunkelhäutige Schönheit gewesen, mit strahlenden runden Augen, die zumindest nach dem Foto zu urteilen mit der typischen Unschuld eines Mädchens von den Inseln erfüllt gewesen waren, die wahrscheinlich ihren Tod begünstigt hatte.

      Sie fragte sich, ob dieses Mädchen, das als Letztes verschwunden war, nach Parrys Zählung zum neunten Opfer des Killers geworden war oder ob man sie im Haus eines Freundes finden würde oder sie vom Festland aus anrief und einfach nur weggelaufen war. Parry hatte ein paar steile Thesen aufgestellt und versucht eine Serie schon früher verschwundener Mädchen auf Maui, das weit weniger entwickelt und eher ländlich war, mit den Entführungen in Honolulu auf Oahu in Verbindung zu bringen.

      Jessica fragte sich, ob die junge Kindfrau mit dem süßen Gesicht auf dem Foto so unschuldig war, wie sie erschien, oder ob sie vielleicht in die schmuddelige Unterwelt von Honolulu hineingerutscht war. Jede Stadt, egal wie schön sie nach außen hin wirkte und wie viele Naturwunder sie bot, nährte eine verführerische, erotisch anziehende Halbwelt, die besonders für die Armen attraktiv war, und es konnte durchaus sein, dass Linda Kahala in diesen Sumpf hineingezogen worden war, weil sie dringend Geld brauchte, um weiter an der Uni bleiben zu können … und wenn ihre Freundinnen sich für ihre Ausbildung prostituierten, wieso nicht auch sie?

      Die Opfer hatten mehrere Gemeinsamkeiten, die Parry in den Akten markiert hatte. Zuerst einmal das Aussehen und die ethnische Herkunft, dann die Tatsache, dass sie alle in Dienstleistungsjobs gearbeitet hatten, meistens in der Tourismusindustrie, auch die, die als Prostituierte gekennzeichnet waren. Alle hatten zu irgendeiner Zeit in oder nahe Kahuiui auf Maui oder hier in Honolulu City gelebt, in oder in der Nähe eines eng abgegrenzten Stadtviertels rund um Chinatown, in einem alten Viertel, in dem


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