Ich bin ein Zebra. Erwin Javor

Ich bin ein Zebra - Erwin Javor


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achtköpfige Familie Kister kam ursprünglich aus Tarnopol in Ostgalizien. Sie ging wie viele Juden Ende des 19. Jahrhunderts auf der Suche nach einem besseren Leben nach Budapest und begann – mit nichts – von vorne. Die Mutter und die fünf Töchter schufen eine Existenzgrundlage für die Familie und waren über viele Jahre hinweg als Marktfahrerinnen in ganz Ungarn unterwegs, während das Familienoberhaupt und der einzige Sohn der Schtetl-Tradition verbunden blieben und sich in das Studium der Torah vertieften.

      Eine der fünf Kister-Töchter, Ernestine, heiratete später Salomon Schmuel Schwarzthal. Ihr erstes Kind, Rose, kam am 20. Juli 1912 in Budapest zur Welt, einige Jahre danach ihr Bruder Marzi.

      Rose sollte später meine Mutter werden. Sie und ihr Bruder wuchsen in Budapest in einer behüteten bürgerlichen Welt auf. Ihre Mutter Ernestine hielt die raue Marktfahrerwelt, die sie selbst als Kind kennengelernt hatte und mit der sie auch ihre eigene Familie ernährte, bewusst von ihren Kindern fern. Sie sollten es besser haben, sollten eine ganz andere Welt erleben. Sie schickte sie auf die Handelsschule und zum Klavierunterricht, sie waren Mitglieder im Ruderclub, im Tennisclub, Ernestine verschaffte ihnen ein deutschsprachiges Kindermädchen, ganz so, wie es in besseren Kreisen üblich war.

      Roses Vater Schmuel blieb vor allem als leidenschaftlicher Kartenspieler, Kettenraucher und geheimnisvoller Geschäftemacher präsent. Keiner durchschaute seine Tätigkeiten allzu genau, jedenfalls trugen sie wenig zum Lebensunterhalt der Familie bei, der im Wesentlichen von Ernestine verdient wurde, indem sie weiter als Marktfahrerin arbeitete. Sie lebte wie in einer zweiten, pragmatischen Welt, die das bürgerliche Leben für ihre Kinder auch ermöglichte.

      Aus Rose und ihrem Bruder wurden so erfolgreich Vertreter der jüdischen Budapester Bildungsschicht, die nur eine sehr vage Vorstellung davon hatten, dass es auch andere Lebensbedingungen gab. Rose wuchs zu einer selbstbewussten, starken jungen Frau heran, heiratete 1934 standesgemäß den Prokuristen einer Maschinenfabrik, Joseph Jàvor, und brachte zwei Jahre später ihre Tochter Eva zur Welt.

      Mit Schwung und unbeirrbarer Energie eröffnete sie dann auch ein Kurzwarengeschäft und packte das Leben mit beiden Händen an. Die Welt der kleinen Familie war im Lot. Rose und ihr Mann Joseph waren erfolgreich. Sie bereisten Europa und zogen ihre Tochter in einer Variante jüdischer Traditionen groß, die mit der Religiosität ihrer Vorgängergenerationen nicht mehr viel gemeinsam hatte. Sie waren in vielen Bereichen assimiliert und verstanden sich in erster Linie als Teil der Budapester jüdischen Gesellschaft und weniger als religiösorthodoxe Juden. Sie hielten zwar die Traditionen hoch, aber mit Religion im engeren Sinn hatte das nicht mehr viel zu tun.

      So ging es vielen Juden, deren Eltern noch mit einem Fuß im Schtetl standen und mit dem anderen schon in ein Leben danach getreten waren. Die jüdische Schtetl-Identität mischte sich mit den Insignien des Erfolgs und Wohlstands des Ortes, an den es die Menschen verschlagen hatte. Sie tat zwar weh, diese Sehnsucht im Herzen, andererseits war da die Möglichkeit des Weiterkommens weit weg vom Schtetl. So entstand mitunter gerade aus diesem Zwiespalt die unfreiwillige Komik derer, die einmal etwas anderes gewesen waren, als sie werden wollten und geworden waren:

      imageDie Wiener Philharmoniker waren immer schon viel unterwegs, und gleichzeitig bei jeder Vorstellung in Wien in der Staatsoper zu hören. Das liegt daran, dass es genügend Zweit-, wenn nicht Drittbesetzungen gibt, sodass sich das berühmte Orchester jederzeit bei Bedarf ausreichend klonen kann, um seinen vielen sonstigen Verpflichtungen nachzukommen. Dazu gehörte eines lauen Maiabends auch das große Gartenfest der Frau Neményi in Budapest. Es war eine Mottoparty zum Thema Wien, und dafür hatte sie fünf echte Wiener Philharmoniker gebucht, um ihre Gäste musikalisch mit Original Wiener Heurigenmusik zu beeindrucken. Alles war perfekt, das Buffet, die Tischdekoration, die originellen Lampions, die von den Bäumen hingen, und auch das Personal war handverlesen. Die ersten elegant gekleideten Gäste waren schon da, aber die Musiker noch immer nicht. Frau Nemenyi wurde langsam nervös und rief die Agentur an, von der sie üblicherweise ihre Philharmoniker bezog. Dort entschuldigte man sich ausführlich, erklärte, dass es eine Überbuchung gegeben, man aber bereits Ersatz gefunden hätte und die fünf Musiker schon auf dem Weg und jeden Moment da wären. Kaum hatte Frau Neményi den Hörer aufgelegt, läutete es auch schon. »Ah, da sind sie ja endlich!« Vor ihr standen tatsächlich fünf Musiker mit ihren Instrumenten – mit langen Bärten, Pajes und allem anderen optischen Zubehör orthodoxer Juden. Klezmer-Musiker.

      Frau Neményi schreckte zurück und schnappte nach Luft. »Wer um Gottes Willen sind denn Sie?« Der Klarinettist lächelte freundlich und sagte beruhigend: »Mir sennen die Schrammeln!«

      Egal, wohin es die Ostjuden auf dem Weg in ein besseres Leben verschlug, das ihnen im Schtetl nicht möglich gewesen wäre, mit einem Fuß blieben sie noch lange dort verhaftet:

      imageSelig, dem Sohn vom alten Faiwisch, war das Schtetl immer schon ein bisschen zu eng gewesen. Kaum war er alt genug, machte er sich auf den Weg in die weite Welt. Faiwisch ließ ihn traurig ziehen. Was hatte er im Schtetl denn schon für Möglichkeiten, etwas aus sich zu machen? Im Lauf der Jahre landete Selig in London, nannte sich um auf Peter Green und schaffte es, sich ein kleines Geschäft aufzubauen, das immer größer wurde. Die Zeit verging, Selig wurde immer erfolgreicher, und eines Tages war die Zeit gekommen, seinem Vater zu zeigen, was aus ihm geworden war, und er ließ den Alten einfliegen.

      Faiwisch kam in London an, und es war ihm auf den ersten Blick anzusehen: Der war nicht von hier. Selig, der sich nun als Mr. Green in britischen Kreisen tummelte, war das unangenehm. Also packte er seinen alten Vater zusammen und verschaffte ihm ein komplett neues Aussehen. Der Bart fiel als Erstes, die Pajes folgten, die abgetragenen Schtetl-Schmatten tauschte der beste Schneider Londons in einen Anzug aus feinstem Tuch, er bekam maßgeschneiderte Hemden mit Monogramm, eine Melone, wie sie nur die Feinsten der Feinen trugen, und Schuhe aus bestem Leder. Faiwisch sah aus wie ein Lord. Solange er den Mund nicht aufmachte und auch nicht mit den Händen kommunizierte, ging er jederzeit für einen echten englischen Gentleman durch.

      Als Faiwisch sich zum ersten Mal als Sir, der er geworden war, im Spiegel sah, begann er bitterlich zu weinen. Selig erschrak, fühlte sich ein bisschen schuldig, dass er seinen alten Vater so völlig seiner Identität beraubt hatte, und fragte ihn leise: »Weinst du, weil du deinen Bart verloren hast?« – »Aber nein«, schluchzte Faiwisch, »ich weine um unsere verlorenen Kolonien!«

      Wie unterscheiden sich Engländer und Juden?

      Engländer gehen, ohne sich zu verabschieden, und Juden verabschieden sich, ohne zu gehen.

      In diesem Leben zwischen den Welten, zerrissen zwischen dem Schtetl und der weiteren Welt, die für Hoffnung auf ein besseres Leben stand, gelang das Bemühen, dort auch anzukommen, nicht immer zu hundert Prozent:

      imageJakob Herzberg saß wie jeden Tag im Kaffeehaus und las die Zeitungen. Es ging die Tür auf, und Feiwel Tennenboim kam herein. »Feiwel!«, rief Jakob aus, »dich habe ich ja ewig nicht gesehen, seit Monaten! Wo warst du die ganze Zeit?«

      Feiwel setzte sich dazu, bestellte seinen kleinen Mokka und erzählte stolz. »Ich bin gereist. Wie Jules Vernes. In achtzig Tagen um die Welt.« – »Oh? Wo warst du denn?« – »Also zuerst war ich in Amerika, auf den Spuren von Einstein.« Jakob ungläubig: »Wie hast du dich denn dort verständigt?« Feiwel stolz und souverän, ganz der Weltreisende: »Ech mit maan Taatsch?« Er meinte damit, dass er mit seinem hervorragenden Deutsch überall durchkäme.

      Jakob verstand. Er war ja genauso aufgewachsen. Erst hatte man ihn angehalten, die fünf Bücher Mose zu lesen, dann hatte ihm der Melammed, sein Lehrer, beigebracht, das Gelesene sofort zu taatschen, also in die Sprache zu übersetzen, die sie für das wahre Deutsch hielten, auch wenn es tatsächlich das vom Mittelhochdeutschen stammende Jiddisch war. »Ah! Und wo warst du dann?«

      »Nu, dann war ich natürlich in Frankreich.« – »Auf den Spuren der Rothschilds?« – »Du sagst es. Ein Erlebnis!« – »Und dort


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