Ich bin ein Zebra. Erwin Javor

Ich bin ein Zebra - Erwin Javor


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das nicht weiter und hätte auch keine Gelegenheit dazu gehabt, denn Feiwel, ganz Kosmopolit, ließ sich nicht unterbrechen. »Nu und dann war ich in England, in Indien, in Shanghai und in Russland.« Und bevor Jakob auch nur einatmen konnte, fuhr Feiwel gleich überlegen lächelnd fort: »Nein, Jakob, frag mich gar nicht erst, ich konnte mich auch dort mühelos verständigen.« Jakob nickte ergeben und versuchte, gar nicht erst Zweifel zu signalisieren: »Ja, ja, alles klar, du mit dajn Taatsch. Und wo warst du noch?«

      »Zum Schluss war ich in Deutschland auf den Spuren von Raschi, dem berühmtesten deutschen Torah-Kommentator.« – »Und dort hattest du erst recht keine Verständigungsschwierigkeiten!« Feiwel seufzte. »Im Gegenteil. Dort bin ech geween takke ojf Zores. Dort hatte ich echte Probleme!«

      Bei allem Blick nach vorn, bei aller Offenheit für einen Aufbruch in neue Zeiten und neue Länder haben Juden ein gutes Gedächtnis. Bis heute haben wir nicht vergessen, dermannen wir uns, was Eva ihrem Adam angetan hat. Alljährlich müssen wir acht Tage lang ungesäuerte und somit unverdauliche Mazzes essen, nur weil wir nicht vergessen können, dass wir es vor über zweitausend Jahren eilig gehabt haben, Ägypten zu verlassen, um das Rote Meer zu teilen. Und wir werden es den Griechen nie verzeihen, dass sie unseren Tempel entweiht haben, auch dessen gedenken wir jedes Jahr pinkt, noch dazu genau zur Weihnachtszeit. Wir merken uns alles. Davon konnte der alte Dr. Kandinsky aus Warochta ein Lied singen:

      imageKandinsky hatte das Schtetl vor langer Zeit verlassen, war in die Welt gezogen, hatte studiert und war ein berühmter Arzt in Warschau geworden. Ganz Warochta war stolz auf ihn. Einer von ihnen, den sie noch als Jeschiwebocher, als Talmud-Student, durchgefüttert hatten, war jetzt weltberühmt!

      Als Dr. Kandinsky dann nach vielen Jahren zurück ins Schtetl kam, um seine Familie und seine Freunde zu besuchen, war ganz Warochta in heller Aufregung. Der Gemeindesaal war neu ausgemalt, geputzt und geschmückt worden, damit er seine neuesten medizinischen Erkenntnisse in einfachen Worten ganz exklusiv den staunenden Bewohnern von Warochta nahebringen konnte. Der Applaus brandete ihm entgegen, als er auf das Podium stieg. Minutenlang. Gerührt bedankte sich der Heimkehrer, und als der Applaus langsam abebbte, zog er sein Manuskript hervor und begann mit seinem Vortrag.

      Doch oj! Plötzlich fegte ein Windstoß durch die geöffneten Fenster des Saals, vor denen die weniger Privilegierten, die keine Sitzplätze mehr bekommen hatten, Kandinskys Worten lauschen wollten. Die Blätter segelten zu Boden, und Kandinsky bückte sich, um sie aufzuheben. War es der Scholet vom Vortag, waren es die Aufregung oder einfach die Strapaze der Reise, man weiß es nicht. Jedenfalls entwischte Dr. Kandinsky ein sehr lautes, unüberhör-bares – doch bitte völlig natürliches! – Körpergeräusch.

      Man konnte eine Stecknadel fallen hören. Die Menge war dankbar, dass die Fenster, alle Fenster, ganz weit geöffnet waren. Kandinsky versank vor Scham fast in den Erdboden. Seine Rede fiel deutlich kürzer aus, als ursprünglich geplant. Während er sprach, schaute er kein einziges Mal ins Publikum und verschwand dann sofort durch den Hintereingang.

      Viele Jahre später erkrankte sein Vater schwer, und Kandinsky sah es als unumgänglich an, wieder nach Warochta zu reisen. Diesmal plante er aber, wie er hoffte, unerkannt in einem kleinen Gasthof im Nachbarort Jeremtscha zu übernachten. Bei seiner Ankunft kam er zunächst einmal mit dem Wirt ins freundliche Gespräch, der ihn danach fragte, wer er denn sei und was er hier in dieser Gegend zu tun hätte. »Mein Vater ist krank«, erklärte Kandinsky, »und ich besuche ihn.« – »Und warum wohnst du dann hier und nicht bei deiner Familie?«, wunderte sich der Wirt. Kandinsky schluckte verlegen und gab dann zu, dass er vor vielen Jahren in Warochta eine peinliche Situation erlebt hätte und er es daher vorziehen würde, inkognito zu bleiben. Der Wirt beruhigte ihn: »Was immer damals passiert ist, die Leute haben das sicher schon längst vergessen und auch nicht so ernst genommen wie Sie! Machen Sie sich keine Sorgen!« Kandinsky wurde nachdenklich und musste, rein logisch betrachtet, dem Wirt recht geben. »Wann hat sich das überhaupt abgespielt, vor wie vielen Jahren?«, fragte der Wirt. – »Ich weiß es nicht mehr genau«, meinte Kandinsky, »aber zehn, fünfzehn Jahre wird es schon her sein.« Der Wirt nickte kurz verständnisvoll mit dem Kopf und fragte nach: »War das vor dem Kandinsky-Furz oder nachher?«

      Der Weg vom Schtetl in die Städte – und retour – verlief also nicht immer ganz perfekt. Das wäre ja noch kein Problem. Aber die ewige Zerrissenheit als definierender Seelenzustand fühlte sich oft durchaus schmerzhaft an. Die Sehnsucht nach der sicheren Zweifelsfreiheit von Dazugehören oder nicht, dessen, was schwarz und was weiß war, blieb. Gleichzeitig zerrte das Streben nach Neuem an den Menschen. Letztlich gewann die Erleichterung darüber, Pogromen und Perspektivenlosigkeit entkommen zu sein, die Oberhand. Zumindest was die grundlegenden Umstände anging, waren die Schtetl-Juden zunächst in einem besseren Leben angekommen. Das würde sich nur allzu schnell wieder ändern.

       Mit einem Schlag ist alles anders

      Für die junge Rose, die in der jüdischen Budapester Bildungsschicht angekommen war, schien es kaum vorstellbar, dass es auch andere Lebensbedingungen geben konnte. Doch als die Pfeilkreuzler, die ungarische Spielart der Nazis, die Macht ergriffen, wurde alles anders. Roses Mann Joseph und ihr Bruder Marzi wurden in ein Arbeitslager verschleppt, das Joseph nicht überlebte. Er starb dort an Entkräftung. Der athletische Hüne Marzi wurde gegen Kriegsende auf dem Todesmarsch im Burgenland von den Nazis erschossen, als er sich, völlig erschöpft, weigerte weiterzugehen.

      Rose und ihre neunjährige Tochter Eva schlugen sich in Budapest noch eine Zeit lang durch, bevor sie verschleppt und mit etwa dreißig anderen Juden in eine überfüllte Wohnung im Budapester Ghetto gepfercht wurden. Dort hatten sie unter einem Esstisch ihren Schlafplatz und lebten in ständiger Angst, nach Auschwitz deportiert zu werden.

      Als der Krieg endete, hatte Rose ihren Mann, ihren Bruder und die meisten anderen Mitglieder ihrer Familie bis auf ihre Mutter und drei ihrer Tanten an die Mörder des Naziregimes verloren.

Unter dajne wajße Stern, streck zu mir dajn wajße Hand, majne Werter sennen Trern, weln ruhen in dajn Hand. Sej, es dunkelt sejer finkel, in majn kellerdikn Blick, un ech hob gur nischt kajn Winkl sej zu schenkn dir zurick. Un ech will doch Gott, majn trajer, dir vertrojen majn Farmeg, weil es muhnt in mir a Fajer, un in Fajer majne Teg. Nor in Kellern un in Lecher wejnt die merderische Ruh. Lojf ech hecher iber Decher un ech such, wu bis du, wu? Unter deinen weißen Sternen, reich mir deine weiße Hand, meine Worte sind nur Tränen, wollen ruhen in deiner Hand. Dunkel ist’s in diesem Keller, dir zurückzugeben hab’ ich gar nichts mehr. Und würd’ ich doch, mein treuer Gott, dir mein Vermögen geben wollen, denn wie ein Feuer lodert es in mir. Nur in Kellern und in Löchern find’ ich vor den Mördern noch die Ruh’. Lauf ’ ich höher, über Dächer, such’ ich dich, wo, ach wo, bist du?

       (Text Abraham Sutzkever, Musik Avreml Brodna, deutsche Übersetzung vom Autor)

      In Worochta, ganz in der Nähe von Jablonica, begannen die Deutschen 1942 mithilfe der Einheimischen, die ansässigen und die aus Ungarn dorthin deportierten Juden zu erschießen. Fast die ganze Familie Engelstein wurde ermordet. Auch Markus’ Frau, die er noch im Schtetl geheiratet hatte, wurde in Polen von österreichisch angeführten Nazis umgebracht. Pinkas Engelstein, der mit gefälschten Papieren zur polnischen Armee gegangen war, wurde verraten und von der SS erschossen, nachdem er gezwungen worden war, sein eigenes Grab auszuheben. Auch Max Engelstein wurde mit seiner gesamten Familie ermordet. Nur die beiden Brüder Markus und Karol waren, ausgerechnet von einem der als besonders primitiv geltenden Huzulen in Worochta, gewarnt worden: »Geht nicht in euer Haus. Sie erschießen Juden.«

S’ brent! Briderlech, s’brent! Oj, unser orem Schtetl nebbich brent!… Es brennt, Brüder, ach, es brennt! Ach, unser armes Schtetl, alles brennt! …

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