Ich bin ein Zebra. Erwin Javor
nur da und schaut mit verschränkte Händ’.
(Text und Musik Mordechai Gebirtig, deutsche Übersetzung vom Autor)
Die beiden Brüder flohen daraufhin mit falschen Papieren über Rumänien und landeten in einem Arbeitslager in Ungarn. Eine einflussreiche polnische Adelige, die sich für ihre Landsleute im ungarischen Arbeitslager einsetzte, erwirkte ihre Freilassung. Markus und Karol kamen zu dem Schluss, dass sie so weit wie möglich östlich, den russischen Truppen entgegen, am sichersten wären. Sie hofften, unter den Russen bessere Überlebensbedingungen vorzufinden.
Nach Jablonica, wo ihre ganze Familie ausgerottet worden war, wollten sie nicht zurück. Aber genau dort landeten sie nach einem unglaublich langen und gefährlichen Fußmarsch letztlich doch wieder. In Jablonica kannten sie sich wenigstens aus und würden es leichter haben, ein Versteck zu finden.
Sie hatten sich allerdings zeitlich verkalkuliert, denn als sie im Ort ankamen, waren die Russen noch nicht dort, und sie saßen abermals in der Falle. Obwohl es riskant war, bat Markus eine der Dorfbewohnerinnen um Hilfe. Sie und ihr Mann beauftragten ihre Pflegetochter, zwischen einem Apfel- und einem Birnbaum ein Erdloch zu graben, in dem sich die Brüder verstecken konnten. Nachts brachte man ihnen Essen und Wasser. Die Angst davor, erwischt und von der Gestapo dafür erschossen zu werden, war groß, wurde aber von diesen einfachen Menschen heldenhaft besiegt.
Zu Kriegsende nach einem halben Jahr im Erdloch hatten Markus und Karol lange Bärte wie Rabbiner – oder Popen, und Popen waren den Russen zu diesem Zeitpunkt ebenfalls suspekt. Dass sie Juden waren, mussten sie nun nicht verbergen, sondern beweisen. Um den russisch-jüdischen Offizier zu überzeugen, der in diesem Moment ihr Schicksal in der Hand hatte, begannen die Brüder, laut auf Hebräisch zu beten.
Es half, und nachdem zu diesem Zeitpunkt, 1944, nicht allzu viele glaubwürdige Nicht-Nazis in der Gegend zu finden waren, machten die Russen Markus Engelstein im mittlerweile »judenreinen« Jablonica zum Bürgermeister und beauftragten ihn, von Haus zu Haus zu gehen und ihnen die Mörder auszuliefern.
Nach dem Krieg – und wieder von vorn
In Budapest allein mit ihrer kleinen Tochter Eva, begann Rose ihr neues Leben und erkämpfte sich wieder eine Existenz und ihre Würde. Ihre Kraft hatte sie nie verloren. Sie baute wieder ein Kurzwarengeschäft auf und richtete den Blick nach vorne.
Eva vermisste ihren Vater. Wie viele Überlebende der Schoah hatte sie Demütigungen erlebt, die sie nie wieder abschütteln konnte. Für das Trauma ihrer Tochter hatte Rose aber ebenso wenig Zeit wie für ihr eigenes. Sie richtete all ihre Kraft auf eine neue Existenz aus. Sie kümmerte sich um das Geschäft, sorgte dafür, dass Eva in die Schule ging, schlug sich durch und kämpfte sich wieder nach oben. Eva war still, traurig, verschlossen, aber wie ihre Mutter funktionierte sie einfach weiter. Es war keine Zeit, um über Lebensqualität nachzudenken, um zuzulassen und auszusprechen, was man fühlte. Rose packte an.
Die Ära von Markus Engelstein als Bürgermeister von Jablonica endete, nachdem er auf die Abschussliste der UPA, der Ukrainischen Aufstandsarmee, geraten war. Es wurde ihm bewusst, dass er hier allein unter Feinden, wo er nicht einmal mehr die Gräber der Seinen finden konnte, kein Leben hatte. Seine Heimat war »judenrein« geworden. Abermals von Bauern, diesmal in einem Heuwagen, versteckt, floh er nun vor den Sowjets, die ihren nützlichen Vertrauensmann nicht ziehen lassen wollten, wieder nach Ungarn. Er ließ ein Grundstück in Jablonica, sogar einen ganzen Berg, Wald- und Grundbesitz zurück, denn diesmal würde Markus nie mehr heimkommen.
In Ungarn begann er wieder von vorne. Import-Export war die Branche der Stunde. Markus machte Geschäfte, so, wie das dem Bedarf nach dem Krieg in Ungarn entsprach, eine Gratwanderung zwischen kriminellem Schwarzmarkt und kapitalistischem Wiederaufbau einer zusammengebrochenen Wirtschaft, die in unausgesprochenem Einverständnis zwischen Ostjuden und russischen Soldaten stattfand. Niemand hatte zu diesem Zeitpunkt das Gefühl, dass es sich hier um etwas Unrechtes handeln könnte, alle suchten Wege, sich zu ernähren und wieder neu anzufangen. Auf abenteuerliche Weise verschaffte sich Markus Engelstein von einem jüdischen Offizier der russischen Besatzungsmacht eine Uniform und einen Lastwagen und transportierte von Rumänien nach Budapest und retour, was immer gebraucht wurde und zu bekommen war: Fensterscheiben, Zigaretten, Lebensmittel. Das Geschäft florierte.
In der Laudon Utca in der Budapester Innenstadt gab es dieses Kurzwarengeschäft, das von einer schönen und ganz offensichtlich tüchtigen jungen Frau geführt wurde. Sie hatte dort sogar ein Telefon. Markus fiel durchaus auf, dass seine drahtige Statur in der schicken Uniform die Wirkung auf sie nicht verfehlte. Es war nicht zu übersehen, die Augen der jungen Frau blitzten, wenn er vorbeiging. Ein Jude in Uniform, egal in welcher, das gefiel ihr. Welche Umkehr von Macht nach den Jahren der Demütigung. Mit selbstbewusster Großzügigkeit ließ sie ihn sogar – »Aber gern, warum nicht?« – ihr Telefon benützen. Um diese Gefälligkeit bat er sie dann auch immer öfter, denn er war auf dem besten Weg, sich unsterblich in sie zu verlieben.
Rose verstand zwar weder sein Polnisch noch Russisch, aber sie merkte, dieser Engelstein war schnell im Kopf. Er wusste ganz offensichtlich, was er tat, und er packte an genau wie sie. Und Markus wusste, dass sie es merkte. Zuerst verständigten sie sich noch auf Jiddisch, aber schon bald auf Ungarisch, in Roses Sprache, die Markus rascher als ein Schwamm aufsog.
1946 machte Markus Engelstein Rose Jàvor zu seiner zweiten Frau. Es war ihm klar, dass ihre Freunde abfällig darüber tuschelten: »Du nimmst dir einen Polischi, einen Polen?« Ungarische Juden sahen auf russische und polnische Juden herab, sie galten als Unterschicht, als primitiv, als unkultiviert, als zu religiös, als nicht in der Moderne angekommen. Aber seine Rosi – »Roschi« auf Ungarisch ausgesprochen – ließ sich davon nicht irritieren. Sie lächelte und brachte spitz mit einem Wort alle zum Schweigen. »Igen!« Gerade noch ein mitleidiges »Macht ja nichts« brachten die Zweifler hervor, das Rose nicht im Mindesten beeindruckte, und gut war’s.
Markus sah sich nicht als Retter der alleinstehenden Frau mit Kind. Dazu war Rose zu stark, zu selbstbewusst, zu stabil auf ihren eigenen Beinen. Im Gegenteil, er sah ihre Verbindung als seine eigene Rettung. Er hatte mit einem Schlag nicht nur eine lebenstüchtige und auch noch hübsche Frau, sondern eine neue Familie bekommen. Danach hatte er sich gesehnt, nach einem Neuanfang, nach der Chance, das Schtetl, seine ermordete erste Frau, seine ermordete Familie, seine Flucht hinter sich zu lassen und einen Weg in ein neues Leben zu finden.
Ein Jahr später kam ihr gemeinsames Kind, Ervin Engelstein – also ich – auf die Welt.
Der eigentliche Plan
In bewegten Zeiten läuft alles anders, als vorgesehen. Aber grundsätzlich folgt die jüdische Lebensart zu allen Zeiten einem Plan, wie man sich findet, eine Familie gründet, Kinder aufzieht, sie ins Leben schickt und den Lebenszyklus beendet. Diese tief verwurzelte Tradition war der Generation meiner Eltern nicht verloren gegangen. Sie konnte sie so nicht leben, hat sie aber auf kreative Weise in ihre schicksalsgebeutelte neue Existenz mitgenommen und weitergegeben.
Wie in anderen Kulturen markieren auch im Judentum bestimmte Meilensteine den Lebenszyklus. Geburt und Beschneidung, Übergang ins Erwachsenenalter, Heirat, Familiengründung, Tod und Begräbnis.
Ein Jude wird geboren
Bei der Geburt fangen die Schwierigkeiten schon an. Wer ist ein Jude? Nach der Halacha, dem rechtlichen Teil jüdischer Überlieferung, ist ein Kind, das eine jüdische Mutter geboren hat, jüdisch. Der Vater zählt von allem Anfang an relativ wenig, und das bleibt auch so. Wer die Mutter ist, lässt sich nicht simulieren. Beim Vater kann man es nie so genau wissen.