Echo eines Freundes. Ingvar Ambjørnsen

Echo eines Freundes - Ingvar Ambjørnsen


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gewählte Regierung zu den Waffen greifen wollten. Das verdient ein feines kleines Lachen.

      Ich gehe mit raschen Schritten die Treppe hoch, ich biege um die Hausecke, ich zögere nicht, mein Plan ist es, diese Tour in einem einzigen Zug hinzulegen. Als ob das passierte, während sich das Ei unten in der Sockeletage im Fett der Pfanne spiegelt. Ich laufe fast, es ist die erste Trainingsrunde des Tages. Aber soll ich mein Gesicht dem Küchenfenster und dem Raum dahinter zuwenden, oder soll ich es lassen? Ist es nicht unhöflich, einfach so vorüberzurennen? Ist es nicht noch unhöflicher, zu ihr hineinzuschauen? Was, wenn sie sich in einer Situation oder Position befindet, die mich als Mieter nichts angeht? Ein wenig entmutigt bleibe ich bei der Mülltonne stehen. Die ich dann öffne, und nun gebe ich vor, eine Tüte voll Abfall hineinfallen zu lassen. Es ist ein schöner Tag, das steht immerhin fest. Sonne und blauer Himmel. Ein wenig Wind. Die Baumkronen wiegen sich. Hinten beim Tor ahne ich durch die farbenfrohen Zweige der Berberitze den grünen Briefkasten. Das ist das Ziel. Es ist absolut in Reichweite. Ich lasse die Mülltonne los und segele, den Blick auf den Briefkasten gerichtet, durch den Garten hinter dem Haus, es ist fast wie im Traum. Und wie erwartet: leer. Geleert. Es wird noch einige Tage dauern, bis Dagsavisen eintrudelt, sie haben etwas von einer Woche angedeutet.

      Das Wichtigste war ja eigentlich der Weg, denke ich, das ist ein bisschen altklug, aber jetzt habe ich es wenigstens hinter mir. Ich freue mich auf einen Tee. Vielleicht eine gute Radiosendung.

      Aber das Schicksal will es anders. Auf halber Strecke zur Tür muss ich feststellen, dass diese aufgleitet und dass Annelore Frimann-Clausen auf die Treppe tritt, gewandet in die sportliche Allwetterjacke, die mir gleich bei meinem Eintreffen aufgefallen ist. Vernünftige Spazierschuhe trägt sie außerdem.

      »Die Post kommt selten vor eins«, kann sie mitteilen. Sie sagt es halb über ihre Schulter, während sie die Tür hinter sich abschließt. »Aber du, eine Kleinigkeit noch …«

      Jetzt kommt es, denke ich. Denn wenn jemand einen Satz auf diese Weise anfängt, dann geht es nur höchst selten um Kleinigkeiten. Ich würde am liebsten eine Verabredung vorschützen, aber dann reiße ich mich zusammen. Hätte ich dreißig Sekunden mit dem Verlassen der Wohnung gewartet, hätte diese Begegnung nicht stattgefunden. Und da gehe ich doch davon aus, dass sie vom Schicksal so bestimmt worden ist. Dass es so sein soll.

      Sie macht sich an ihrer Handtasche zu schaffen und zieht einen kleinen Schlüssel hervor. »Der ist für die Sigurdsbude. Du kannst ja bei Gelegenheit mal einen Blick reinwerfen, es eilt nicht. Aber irgendwann vor Weihnachten hätte ich sie gern geleert.«

      Sie erklärt, dass sie mich für diese Arbeit natürlich bezahlen wird. Dass aller Inhalt, abgesehen von Werkzeug und Hobelbank, weggeworfen werden soll.

      Ich nehme den Schlüssel ein wenig widerwillig entgegen. Waren das nicht Befehle und Informationen, die sie bei einer schmackhaften Mahlzeit am letzten Sonntag im Monat vortragen wollte? Hat sie das schon vergessen? Wäre es richtig von mir, das jetzt sofort zu erwähnen, oder wird von mir erwartet, dass ich bis zum erwähnten Sonntagsessen in Schweigen verharre?

      Sie muss mein Zögern gesehen haben, denn nun fügt sie rasch hinzu: »Ja, ich kann natürlich andere darum bitten. Du darfst das wirklich nicht missverstehen. So bin ich absolut nicht. Aber den Schlüssel brauchst du doch trotzdem. So. Das war schon alles. Und jetzt muss ich laufen, damit ich den Bus noch erwische.«

      »So«, denke ich. »So bin ich nicht.«

      Sehe, wie sie über den Bürgersteig eilt. Sie winkt.

      Ich winke zurück.

      Plötzlich erfüllt mich wieder diese unerwartete Freude. Hier stehe ich in einem Garten in Grefsen und winke und winke. Mit einem blanken Schlüssel in der Hand.

      Das Leben ist wunderlich und unvorhersagbar.

      »So bin ich nicht«?

      6

       Die Sigurdsbude

      In einer gewissen Zeit nach dem Tod meiner Mutter hatte ich mein Leben aus dem Griff verloren. Damit Ordnung und Fleiß wieder hergestellt werden konnten, mussten vorübergehend andere das Steuer übernehmen. Das kommt in den besten Familien vor. Das Dasein wächst einem über den Kopf. Man endet im Chaos.

      Es ist dieser Zustand böser Anarchie, an den ich jetzt denke, als ich die Tür der Sigurdsbude öffne. Hinter mir: der herbstliche Garten mit dem melancholischen Zwitschern von Meise und Zeisig und dem Gurgeln in den Dachrinnen des Hauses. Vorn: ein Raum, der stark an meinen eigenen Kleiderschrank in der erwähnten Periode erinnert. Eine massive Wand aus Gegenständen. Eine Art Installation einer gequälten Yoko Ono. In dem kompakten Chaos kann ich ganze Möbel, Teile von Möbeln und Möbeltrümmer sehen, Ordner und Papiere, Stapel von Zeitungen und Zeitschriften, Pappkartons und Schuhkartons, Vorhänge und Teppiche, alte Farbeimer, geöffnete Zementsäcke. Bücher. Spielzeug. Werkzeug. Das alles und unendlich viel mehr. Wie gesagt: eine Wand. Wo die Hohlräume, die entstanden sind, wenn größere Gegenstände aufeinandergestapelt wurden, nach und nach von anderen und kleineren gefüllt worden sind. Im Winkelraum zwischen einer zerbrochenen Lampe und dem Türrahmen: kleine Medizinflaschen, hineingeschoben, bis kein Platz mehr war. Zwischen den Fächern eines zerbrochenen Regals: Konservendosen voller Schrauben, Nägel und Maschinenteile, mit peinlicher Genauigkeit nach Höhe und Breite gestapelt. Und überall, in allen kleineren Ritzen und Hohlräumen: Papierservietten in allen Regenbogenfarben, zusammengefaltet und hineingeschoben, ein Flickenteppich des Wahnsinns aus diesem und jenem und dem Teufel und seiner Großmutter, so etwas habe ich noch nie gesehen, aber das habe ich eben doch. In meinem eigenen Schlafzimmer, in der guten alten Blockwohnung, in der Mutter und ich in Alltag und Kampf zusammengelebt haben.

      Wo es dann mit mir ein böses Ende nahm.

      Ist es wirklich erst eine Stunde her, seit ich beschlossen habe, dass der Gang zum Briefkasten das Projekt für diesen Tag sein sollte? Vorbei an Frau Frimann-Clausens Küchenfenster?

      Und jetzt das. Plötzlich wirkt alles so fremd. Wie etwas Gigantisches aus einer Parallelwirklichkeit. Ich fische das Mobiltelefon aus der Tasche und weiche zurück, bis die Türöffnung der Sigurdsbude das gesamte Display füllt. Knipse. Einmal, zweimal, dreimal, vielmal. Doch. Das hier ist Kunst. Das hier ist kranke Kunst. Das kann ich vergrößern und zur Herbstausstellung schicken.

      Aber dann schicke ich es lieber an Annelore Frimann-Clausen.

      Mit dem Text: Alles wegwerfen? Nur das Werkzeug behalten?

      Ich brauche eine Bestätigung. Am liebsten schriftlich, per SMS.

      Ich habe mir schon eine azurblaue Vase und eine Ukulele ohne Saiten ausgesucht.

      Ich gehe ein bisschen in den Garten. Es ist so ein schöner Herbsttag, mit hohem Himmel und Laub in allen Farben. Säuerlicher Geruch von feuchtem Gras und Fallobst. Wann habe ich zuletzt so auf einen Anruf gewartet? Oder eine SMS? Ich kann mich nicht erinnern. Es muss Jahre her sein. Es muss in einem anderen Leben gewesen sein. Ich lasse die Tür zu meiner Wohnung sperrangelweit offenstehen. Schon liebe ich diese Tür. Es ist eine Tür von der Sorte, die ich bisher nur im Film und in Wohnzeitschriften gesehen habe. Die Glastür, die direkt in den Garten hinausführt. Ich fülle einen großen Becher mit Tee aus der Thermoskanne und nehme ihn mit hinaus. Ich bin König und Kaiser und Herr des Gartens! Ich nippe an dem würzigen Getränk, während ich das Telefon in der linken Hand halte.

      Es klingelt, als ich mir eine einzelne Johannisbeere von einem fast geplünderten Strauch unten am Zaun sichere.

      Sie ist es.

      »Hach, das ist mir jetzt aber wirklich peinlich.«

      Ich: »Peinlich?«

      »Ja, mir war gar nicht klar … ich wusste nicht, dass es so weit gekommen ist. Ich hätte natürlich nachsehen müssen, ehe du gekommen bist.«

      Hier schalte ich mich mit ruhiger Stimme ein und versichere ihr, dass es hier im Fiolvei 5 rein gar nichts gibt, das ihr peinlich sein müsste. (Abgesehen von dem Schimmelpilz, der im Schlafzimmer und im Bad auf dem Vormarsch


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