Sind denn alle guten Männer schon vergeben?. Silvia Aeschbach
Aeschbachs Kolumne jene Wohnung, aus der es immer lärmt und scheppert und dröhnt. Darin wird gelacht, geweint, gekocht, geschlemmt, getrunken, diskutiert, geträumt, gehofft, gezweifelt, geliebt, gelitten. Und draußen vor der Tür stehen kunterbunt High Heels, Wander- und Turnschuhe, Flip-Flops und Gummistiefel. Silvia Aeschbachs Kolumnen sind der ganz normale Wahnsinn. Eine Mischung aus dem Leben, das wir leben, und dem Leben, das wir vielleicht gerne führen würden.
Sollten Sie jetzt doch noch wissen wollen, warum ich annehme, dass alles wahr ist, was Silvia Aeschbach in der »Coopzeitung« schreibt: Weil uns eine jahrzehntelange berufliche und private Freundschaft verbindet. Ich weiß also, was sich in ihrem Leben zugetragen hat und was sich heute so tut. Deshalb gehe ich auch davon aus, dass es noch jede Menge Schreib- und Lesestoff für die nächsten Jahre gibt.
Ich freue mich darauf! Auch, wenn ich, ehrlich gesagt, keine Ahnung habe, ob Silvias Hellblond hundert Prozent Natur ist.
Silvan Grütter,
Chefredaktor der »Coopzeitung«, im Juli 2020
Keine Anleitung zum Erwachsensein
Erinnern Sie sich noch daran, wann Sie das erste Mal das Gefühl hatten: »Jetzt bin ich wirklich erwachsen!«? Passierte es nach dem ersten nicht jugendfreien Kuss? Nachdem der erste Rausch dazu geführt hatte, dass Sie am Morgen danach über der Kloschüssel hingen? Nach dem ersten verzehrenden Liebeskummer, den Sie nicht zu überleben glaubten? Oder nachdem Sie mit dem ersten Lohn auf den Putz gehauen hatten? Oder brauchte es länger, bis sich dieses ersehnte Gefühl einstellte? Nachdem Sie Ihrer/Ihrem Liebsten das Jawort gegeben hatten? Nachdem Sie zum ersten Mal Eltern geworden sind und Ihnen schlagartig klar wurde, dass Sie jetzt nicht mehr nur für sich selber verantwortlich sind? Oder nach dem Tod eines Elternteils, als Ihnen klar wurde, dass Sie jetzt vielleicht der/die Nächste sind?
Seit ich mich erinnern kann, wollte ich erwachsen sein. Denn ich dachte, Erwachsensein sei gleichbedeutend mit der Freiheit, das tun und lassen zu können, was ich wollte. Und nicht, was Eltern, Lehrer oder sonstige Autoritätspersonen von mir verlangten. Wenn ich nur das Wort Autorität hörte, bekam ich Gänsehaut. Und, ehrlich gesagt, geht es mir noch immer hin und wieder so. Was beweist, dass ich auch heute durchaus noch unerwachsene Momente habe.
In guten Zeiten spüre ich dies, wenn mich Gefühle überwältigen und ich die ganze Welt umarmen oder vor Sehnsucht platzen könnte. Dann, wenn ich mich mit jeder Faser meines Körpers und meiner Seele lebendig fühle. Und ich, trotz meinem Alter, überzeugt bin, mein Leben und meine Zukunft würden wie ein weißes Blatt vor mir liegen.
Schmerzhafter sind die Augenblicke, in denen ich an frühere schwierige Zeiten erinnert werde. Dieses »Triggern« macht, dass man ein altes Erlebnis oder Gefühl so spürt, als handle es sich um ein aktuelles Ereignis. Wenn ich mich etwa in einer fremden Umgebung verlaufe, kann es sein, dass ich mich plötzlich genauso elend fühle wie damals, als ich als kleines Mädchen meine Mutter beim Einkaufen verloren hatte. Eine ungerechte Kritik kann die Überzeugung auslösen, ich sei »dumm«, so wie mich mein Mathelehrer genannt hatte, als ich es an der Tafel nicht schaffte, eine schwierige Gleichung zu lösen. Und der Geruch von frischer Leber dreht mir noch heute den Magen um, weil ich diese früher wegen meiner Blutarmut essen musste.
Ja, ich bin heute erwachsen. Jedenfalls für mein Umfeld. Ich erledige meine Pflichten, übernehme Verantwortung für mich und andere, zahle meine Steuern und fühle mich nicht jedes Mal, wenn ich einen Polizisten sehe, als ob ich etwas ausgefressen hätte. Aber ich freue mich darüber, dass es immer noch viele Momente in meinem Leben gibt, in denen ich mich nicht erwachsen fühle. Auch wenn es ein bisschen wehtut, wenn ich mich dann manchmal nicht nur wunderbar, verrückt oder kindisch, sondern auch verlassen, ungeliebt oder dumm fühle.
Aber hey, das ist doch Leben!
Feiert das Leben, nicht die Feste!
Vielleicht finden Sie es etwas seltsam, dass ich gleich zum Jahresanfang übers Feiern schreibe. Schließlich haben viele von uns die Festtage noch nicht ganz verdaut. Und dies in verschiedener Hinsicht: Vielleicht klebt ja noch, bildlich gesehen, der Rest der Weihnachtsgans und der Crème brûlée an den Hüften, während im Portemonnaie gähnende Leere herrscht. Vielleicht sind Sie auch froh, dass jetzt wieder der Alltag eingekehrt ist. Denn seien wir ehrlich: Festtage sind doch immer auch etwas anstrengend, dies vor allem für uns Frauen, weil wir uns für alles und alle verantwortlich fühlen.
Nun ist der Januar nicht unbedingt der Wonnemonat, sondern ein echt nüchterner Geselle. Statt zu schlemmen, üben wir uns im Intervallfasten. Statt zu faulenzen, ist Fitness angesagt. Und statt die Abende faul neben dem Lieblingsmenschen und in Gesellschaft von Netflix auf der Couch zu verbringen, machen wir Budgetplanung mit dem Vorsatz, nach den Dezemberausgaben die Finanzen irgendwie wieder ins Lot zu bringen.
Doch Genuss braucht eine gewisse Askese. Denn ohne diesen Unterschied zu spüren, könnte man den Genuss ja nicht wirklich genießen. Oder etwa doch? Schließlich wissen wir ja bereits, wann das nächste Familienfest gefeiert wird. Nächster Halt: O wie Olten – nein: Ostern!
In unserer Kultur sind Feste und das Feiern Fixpunkte im Jahreslauf. Wir brauchen einen Grund, um zu feiern, sonst ist es uns nicht ganz wohl. Wobei mir bei der Aufforderung »Das muss jetzt gefeiert werden!« immer etwas seltsam zumute ist. Ich mag es nämlich nicht, auf Knopfdruck fröhlich sein zu müssen. Darum mag ich auch Silvester nicht. Okay, vielleicht spielt hier auch ein klein wenig mit, dass ich zweimal in meinem Leben an einem 31. Dezember verlassen wurde. Aber das ist eine andere Geschichte.
Ja, es mag unvernünftig sein, an einem kommunen Montagabend spontan ein Fläschchen Champagner zu köpfen; eben nicht, weil Neujahr gefeiert werden muss, sondern nur, weil der Wochenstart gelungen ist. Und warum warten wir eigentlich darauf, dass der Liebste am Hochzeitstag die üblichen langstieligen Rosen heimbringt, wenn man viel lieber himmelblaue Hortensien hätte? Doch wir sagen ihm das nicht, um ihn nicht zu verletzen und seine feierliche Stimmung zu dämpfen.
In diesem Zusammenhang denke ich an meine verstorbene Mutter, die sich an Beerdigungen immer darüber ärgerte, welche Blumenpracht aufgefahren wurde: »Ein Fünftel davon hätte den Verstorbenen zu Lebzeiten gefreut. Jetzt hat er nichts mehr davon.«
Man sollte das Leben feiern und nicht die Feste. Leistungen und Erfolge sind etwas Tolles. Aber sind es nicht die ganz persönlichen Erlebnisse, die uns mehr berühren und die es verdienen, dass man ihnen mehr Aufmerksamkeit schenkt? Auch ohne dass wir sie auf Facebook, Instagram und Twitter teilen. Besondere Momente warten nicht auf einen Termin in der Agenda. Man muss sie erkennen, festhalten und hochleben lassen.
Die Qual der Wahl
Kürzlich beschwerte sich eine Kollegin beim Mittagessen, dass sie es »sooo anstrengend« finde, sich ständig entscheiden zu müssen. »Wenn ich am Morgen im Restaurant einen Kaffee bestelle, überfordert mich das. Das Angebot ist einfach zu groß. Soll ich jetzt einen Latte nehmen, einen Cappuccino oder besser einen Espresso mit Milch?« Wenn sie sich bereits so früh anstrengen müsse, um das richtige Getränk auszusuchen, bleibe ihr »womöglich keine Energie mehr für die wirklich wichtigen Entscheidungen im weiteren Verlauf des Tages«. »Recht hast du«, mischte sich eine andere Kollegin ein, »ich habe das Problem, beim Einkaufen unter den zwanzig verschiedenen Müesli zu wählen. ›Hätte es nicht noch ein Besseres gegeben?‹, frage ich mich jeweils nach dem Bezahlen.«
»Genau«, seufzte die Dritte, »für die Frühlingsferien muss ich mich wieder entscheiden, ob ich lieber in die Karibik oder auf die Seychellen reisen will. Das ist so anstrengend.«
Ich musste laut herauslachen und mich zusammennehmen, um keinen zynischen Kommentar abzugeben. Merkten die drei denn nicht, welches Luxusproblem es ist, aus so vielen Varianten aussuchen zu dürfen? Mindestens die Hälfte der Menschheit würde Luftsprünge vor Freude machen, hätte sie überhaupt eine Wahlmöglichkeit. Und nein, nicht nur die Menschen in Syrien und anderen Kriegsgebieten haben keine Wahlmöglichkeiten, auch in der Schweiz gibt es viele, die sich die Frage nach dem