Das Geheimnis von Belle Island. Julie Klassen

Das Geheimnis von Belle Island - Julie Klassen


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hätte. Und wenn er vorausgesehen hätte, wie hinterhältig Percy vorgehen würde, hätte er ihn nie zu unserem Vormund ernannt.«

      Benjamin fragte sich, ob sie Percival Norris wirklich nur gedroht hatte. Er blickte sich im Zimmer um, betrachtete den Schreibtisch und die Schränke. »Hätte Ihr Vater ein solches Dokument hier aufbewahrt?«

      »Meiner Ansicht nach hätte er es mit auf die Reise genommen. Ich glaube, er wollte es, nachdem er Grace vom Schiff abgeholt hatte, den Londoner Anwälten übergeben, aber so weit ist es ja nicht gekommen. Vielleicht irre ich mich aber auch; ihre Koffer wurden uns nämlich ausgehändigt und wir haben keine Papiere darin gefunden. Andererseits war ich damals vor Kummer außer mir und hatte keinen Kopf für so banale Dinge wie juristische Unterlagen.«

      »Verzeihen Sie, aber Ihre … Wurden Ihre Eltern ebenfalls hierher gebracht?«

      Sie schien zusammenzuzucken. »Ja. Sie sind auf dem Friedhof von St. Raymonds in Riverton begraben. Der Bestatter hat mir ein paar persönliche Dinge gebracht – Papas Geldbörse und seine Uhr, Mamas Handtasche und ihren Ring, aber keine Papiere.«

      »Warum ist Ihnen das so wichtig, jetzt, da Mr Norris tot ist?«

      »Wenn ich nichts unternehme, werden wir einen anderen Vormund bekommen und wieder in allem, was wir tun oder mit unserem Geld anfangen wollen, einem fremden Willen ausgeliefert sein. Ein Fremder wird Roses Mitgift bestimmen, ihren Ehevertrag aushandeln und all das. Ich muss es wissen. Habe ich nicht allen Grund, einen solchen Nachfolger abzulehnen und meine eigene Herrin zu werden, ohne äußere Einmischung?«

      »Gehört das Anwesen denn nicht zur Hälfte Rose?«

      »Die Insel und unser schönes Haus in London gehören zum Treuhandvermögen. Jedenfalls glaube ich das. Doch letztlich ist Rose meine alleinige Erbin. Wenn ich einmal sterbe, wird sie alles erben.«

      »Ich weiß nicht, ob ich das herumerzählen würde.«

      »Warum nicht?«

      Benjamin machte sich in Gedanken eine Notiz zu diesem Motiv, beschloss aber, im Moment nichts dazu zu sagen. »Egal. Zurück zu Ihrer Frage – Sie haben recht, Ihr Vater als ursprünglicher Aussteller hat wahrscheinlich einen weiteren Treuhänder verfügt, für den Fall, dass Mr Norris die Aufgabe nicht übernehmen konnte oder wollte. Sonst müsste das Gericht das tun.«

      »Aber warum brauchen wir überhaupt einen Treuhänder oder Vormund? Rose ist noch nicht achtzehn, aber sie wird bald heiraten und dann wird ihr Besitz auf ihren Mann übergehen.«

      »Richtig. Es sei denn, vor der Heirat wird ein Ehevertrag geschlossen.«

      »Deshalb hat Percival ja auf einen Vertrag bestanden, obwohl das den Adairs gar nicht recht war.«

      Benjamin nickte. »Ihre Nichte ist sehr jung, es ist also nicht abwegig, dass Mr Norris einen Vertrag für nötig hielt, zu ihrem eigenen Schutz, und einen älteren Vormund, der sie beraten kann.«

      »Und was ist mit mir? Ich bin dreißig Jahre alt.«

      »Zugegeben, Sie wirken durchaus, als könnten Sie diese Aufgabe übernehmen.«

      »Danke. Mein Ziel ist es, dieses Haus und die Insel für künftige Generationen zu bewahren. Für Roses Kinder.«

      »Und Ihre eigenen?«

      Sie sah ihn mit großen blauen Augen an. »Ich … ich hege derzeit keine Heiratspläne.«

      »Weiß Dr. Grant das?«

      »Sie sind unverschämt!« Wütend funkelte sie ihn an.

      »Verzeihen Sie. Das war taktlos.«

      Sie hob das Kinn. »Dr. Grant und ich sind alte Freunde.«

      Sein Blick ruhte auf der anmutigen Linie ihres Halses. »Er scheint Sie zu bewundern.«

      Sie spielte an der Wachsjacke herum, die auf dem Schreibtisch lag. »Vielleicht. Aber wir sind nur … Freunde.«

      »Ich frage mich, warum.«

      Sie zuckte die Achseln und wandte den Blick ab.

      Benjamin war unwillkürlich gerührt, doch er kämpfte sofort gegen dieses Gefühl an. Sie zog ihn bereits in ihren Bann, so wie es bei Susan Stark gewesen war. War es unklug von ihm, dieser Frau zu helfen? Würde er es noch bereuen, wenn er hierblieb? Andererseits konnte es sich durchaus als vorteilhaft erweisen. So hätte er Zugang zu den Menschen, die hier lebten, und Gelegenheit, ihren verborgenen Geheimnissen auf die Spur zu kommen.

      Er straffte die Schultern und rettete sich in ein geschäftsmäßiges Verhalten. Auf dem Terrain fühlte er sich sicherer. »Nun gut. Ich werde nach einem neuen Testament suchen und versuchen herauszufinden, wie die Frage des Treuhand-Nachfolgers geregelt werden könnte. Ich werde Mr Hardy, unserem Seniorpartner, schreiben und mich nach den aktuellen Bedingungen erkundigen.«

      »Danke.« Sie löste einen Schlüssel von der Schlüsselkette an ihrem Gürtel und schloss den Schreibtisch und die Aktenschubladen auf. »Lassen Sie mich wissen, was Sie herausgefunden haben.« Damit ging sie. Benjamin blieb allein in dem Arbeitszimmer zurück und fragte sich, wie um alles in der Welt er zum Gast von Leuten geworden war, die er kaum kannte und denen er noch weniger vertraute.

      Bis vor Kurzem hatte er sich für einen ganz passablen Menschenkenner gehalten, hatte geglaubt zu wissen, ob jemand die Wahrheit sagte oder log. Doch der Fall Susan Stark hatte seinem Selbstvertrauen einen schweren Schlag versetzt. Jetzt war er ganz und gar nicht mehr sicher, was er glauben sollte.

      Er beschäftigte sich ein Weilchen mit den Papieren, dann schrieb er Mr Hardy, erkundigte sich nach den Bedingungen der Vormundschaft und teilte ihm mit, dass er noch ein paar Tage länger auf Belle Island bleiben würde.

      Als er gerade dabei war, den Brief zu versiegeln, ertönte draußen lautes Hundegebell.

      Er schaute aus dem Fenster und sah Miss Wilder, wie sie auf dem Rasen mit zwei Hunden spielte. Der alte Hund, den er schon gesehen hatte, hatte einen Stock im Maul, den Miss Wilder ihm spielerisch fortzunehmen versuchte. Sie tanzte ausgelassen um den Hund herum, fröhlich lachend, und wehrte dabei einen kleinen Welpen ab, der sie bellend verfolgte.

      Isabelle schien ein ausnehmend natürlicher, unaffektierter Mensch zu sein, völlig unbekümmert um ihre Wirkung und ihr Aussehen. Er selbst war bis jetzt immer eher voreingenommen gegenüber, wie er sie insgeheim bezeichnete, Landpomeranzen gewesen, doch anscheinend lag er da falsch. Er schloss die Augen. Zieh keine voreiligen Schlüsse über sie, in keinerlei Richtung. Er mochte ihre Haltung bewundern, doch das bedeutete noch lange nicht, dass sie kein Unrecht begangen hatte.

      Nach ein paar Minuten legte sich der alte Hund hin und war trotz all ihrer Bemühungen nicht mehr zum Spielen zu bewegen. Die Zunge hing ihm aus dem Maul; er schien über die Mätzchen seiner Herrin zu lachen und wedelte freundlich mit dem Schwanz. Schließlich gab sie auf, warf den Stock fort und strich dem Hund über den Kopf. Dann ging sie mit dem Welpen zurück ins Haus.

      Kurz darauf ging Benjamin durch die Haustür; er wollte den Brief persönlich aufgeben. Auf dem Weg über die hölzerne Brücke nach Riverton kam er zu dem Schluss, dass das Dörfchen ausnehmend hübsch war. Die Häuschen waren von üppigen Kletterpflanzen bewachsen, in den Vorgärten wuchsen bunte Frühlingsblumen und vor einem bescheidenen Cottage neben der Kirche konnte man Blumensträuße kaufen. Gegenüber befand sich ein Dorfladen, dessen Schaufenster ein Sammelsurium von Dingen zeigte, die die Vorübergehenden zum Kauf animieren sollten: Kerzen, Tabakspfeifen, Kreisel und Bälle, Zuckerwecken, Zinn- und Eisenwaren, Knöpfe und Bänder.

      Ein Stückchen weiter unten, am Ufer, erhob sich die alte Mühle, deren Räder das Wasser in schaumig-weiße Strudel verwandelten. Neben der Mühle stand ein Wagen mit roten Rädern, hoch mit Mehlsäcken beladen. Die Pferde fraßen frisches Heu, das ihnen jemand hingeworfen hatte.

      Die Uferstraße verlief parallel zur Themse, eine andere Straße, die sie im rechten Winkel kreuzte, führte den Hügel hinauf. Dort erblickte Benjamin sein Ziel – das White Hart


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