Das Geheimnis von Belle Island. Julie Klassen

Das Geheimnis von Belle Island - Julie Klassen


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Wir haben ihn schon vor vielen Jahren verloren. Und meine übrigen Familienangehörigen sind alle beinahe gleichzeitig gestorben.«

      »Ach ja? Ich erinnere mich: Ihre Londoner Haushälterin erwähnte, dass Miss Lawrences Mutter verstorben sei.«

      »Ja. Grace und ich waren unzertrennlich, obwohl sie sechs Jahre älter war. Doch dann lernte sie Harry Lawrence kennen und ging mit ihm nach Indien – wo sie doch Spinnen, Schlangen und Schmutz ihr Leben lang so sehr verabscheut hat. Das muss wahre Liebe gewesen sein, nehme ich an.«

      »Dazu kann ich nichts sagen«, murmelte Benjamin trocken und fügte hinzu: »Ich wusste, dass Sie Ihre Eltern verloren haben, deshalb wurde Mr Norris ja als Ihr Vormund eingesetzt – aber, dass auch Ihr Bruder und Ihre Schwester ums Leben gekommen sind, war mir unbekannt. Wie lange ist das schon her?«

      »Über zehn Jahre.« Miss Wilder trat ans Fenster und sah hinaus. »Ich erinnere mich noch daran, als sei es gestern gewesen … Wir hatten gerade einen Brief von Grace mit der furchtbaren Nachricht erhalten, dass ihr Mann an einer fremden Krankheit gestorben und sie ebenfalls erkrankt war. Sie informierte uns, dass sie zusammen mit ihrer kleinen Tochter auf dem Rückweg nach London sei und hoffe, dass wir sie am East India Dock abholen würden. Wir erhielten den Brief allerdings erst am Vorabend ihrer Ankunft und Mama war außer sich vor Sorge. Papa versuchte ihr klarzumachen, dass sie ein wenig Schlaf brauchte, versprach ihr aber, dass sie gleich frühmorgens losfahren würden.

      Ich wollte sie begleiten, doch Mama bestand darauf, dass ich zu Hause blieb. Während sie unruhig durchs ganze Haus lief und packte, befahl Papa einem Pferdeknecht, die Reisekutsche anzuspannen, und schloss sich im Arbeitszimmer ein, um ›ein paar Sachen in Ordnung zu bringen‹. Gegen Mitternacht hielt Mama es nicht mehr aus und verlangte, dass sie sich auf den Weg machten. Papa gab nach, weckte den Kutscher und sie fuhren los. Eine unglückselige Entscheidung, wie sich später herausstellte. Sie stießen mit einer schnellen Postkutsche zusammen und waren auf der Stelle tot.«

      Benjamin sah sie bekümmert an. Welch ein tragischer Verlust. Er konnte sich nicht vorstellen, wie es wäre, seine Eltern und Geschwister alle gleichzeitig zu verlieren. »Es tut mir wirklich sehr leid.«

      »Mir auch. Aber ich danke Gott, dass der Unfall geschah, bevor sie die kleine Rose abgeholt hatten, sonst hätte ich sie auch noch verloren. Später erfuhr ich, dass Grace auf der Reise gestorben war. Zum Glück reisten sie mit einer englischen Gouvernante, die Grace für Rose eingestellt hatte. Als niemand zum Schiff kam, um sie abzuholen, ging die praktisch veranlagte Miss O'Toole in ein Gasthaus und besorgte für sie beide eine Fahrkarte für die Postkutsche. Als sie endlich auf die Insel kamen, war ich bereits außer mir vor Sorge; ich hatte vom Tod meiner Eltern erfahren, aber ich wusste nicht, was aus meiner Schwester und ihrem Kind geworden war.«

      Isabelle drehte sich um und sah ihm in die Augen. »Sie sehen, Mr Booker, meine Ängste um Rose sind nicht ganz unbegründet. Ich habe alle meine Angehören verloren, während sie auf Reisen waren.«

      Carlota warf ein: »Aber vergessen Sie nicht, Miss Rose wurde nicht hier auf der Insel geboren – der sogenannte Fluch gilt also nicht für sie.«

      »Fluch?«, wiederholte Benjamin überrascht.

      Miss Wilder machte eine abwehrende Handbewegung. »Ein paar der Dorfbewohner fingen an zu reden. Es hieß, auf unserer Familie ruhe ein Fluch, weil jeder Wilder, der die Insel verlässt, jung stirbt. Das ist natürlich völlig absurd, aber Sie können sicher verstehen, wie dieser Gedanke aufkam. Erst starb mein Bruder, dann meine Schwester, dann meine Eltern. Dabei verließen sie die Insel vor ihrem Tod gelegentlich, ohne dass ein Unglück geschah, und Rose tut dies ebenfalls, also sollte ich mir wohl keine Sorgen machen. Aber das tue ich trotzdem.«

      Seine Gastgeberin ging zur Tür. »Wir lassen Sie jetzt in Ruhe essen, Mr Booker. Wenn Sie noch etwas brauchen, klingeln Sie einfach.«

      »Danke, das tue ich.«

      Die Frauen wollten das Zimmer verlassen, doch Benjamin rief ihnen noch nach: »Was ist mit Percival Norris?«

      Isabelle Wilder drehte sich um. »Was soll mit ihm sein?«

      »Er hat auch zur Familie gehört, oder nicht? Er war doch Ihr Onkel?«

      »Genau genommen war er nur Vaters Großcousin. Wir haben ihn nur aus Respekt vor seinem Alter ›Onkel‹ genannt.«

      »Ist er auf Belle Island geboren?«

      »Nein. Warum fragen Sie?«

      »Nun ja, dem Anschein nach bezog sich der Fluch auch auf ihn.«

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Ornament

      Am nächsten Morgen wachte Benjamin erfrischt auf. Er sah sich verwirrt um, erkannte jedoch weder das Zimmer noch das fremdartige Geräusch der quakenden Wasservögel und das Hupen draußen vor dem Fenster. Die Läden standen offen, das Sonnenlicht fiel ungehindert herein – alles wirkte so anders als am gestrigen Nachmittag.

      Als der Arzt ihm Ruhe verschrieben hatte, hätte er nie gedacht, dass er den ganzen Abend und die ganze Nacht durchschlafen würde. Die Reise und der Schwindelanfall hatten sehr an seinen Kräften gezehrt.

      Er stand vorsichtig auf, prüfte, ob seine Beine ihn tragen konnten, und stellte erleichtert fest, dass sie wieder zuverlässig waren. Bei dem Gedanken daran, wie er sich bei seiner Ankunft blamiert und vor Miss Wilder und ihrem ärztlichen Freund als Schwächling erwiesen hatte, wurde ihm ganz heiß vor Verlegenheit.

      Heute wird es anders, gelobte er sich. Dafür würde er sorgen.

      Im Nachthemd – er erinnerte sich gar nicht, es angezogen zu haben – trat er ans Fenster und schaute hinaus. Staunend betrachtete er den Ausblick. Der Nebel von gestern war fort. Alles strahlte in leuchtenden Farben: Üppiger grüner Rasen erstreckte sich bis hinunter zu einem sanft dahinfließenden Flüsschen in dunklem Blau. Leuchtend gelbe Narzissen säumten das Ufer, blühende Kirschbäume fügten kleine rosa-weiße Farbkleckse hinzu.

      Jenseits der Themse wirkte das Dorf Riverton wie eine entzückende Märchensiedlung – eine schmale Steinkirche mit efeubewachsenem Turm, eine Mühle, Dorflädchen, Stroh- und Ziegeldachhäuschen, wunderschön gelegen an einem sanften Hang, der sich hinter der Straße erhob, auf der er mit der Kutsche hergekommen war.

      Das überfüllte, schmutzige London schien plötzlich unendlich weit fort. Eine Welt der Dunkelheit und der Schatten, verglichen mit dem lebhaften Aquarell vor seinen Augen.

      Vorsicht … mahnte er sich selbst und dachte an die Aufgabe, die ihn hierhergeführt hatte. Dieser Besuch war kein privater Ausflug, so schön das auch wäre. Zudem war es möglich, dass sich in dieser lieblichen Szene vor ihm möglicherweise ein Mörder verbarg.

      Nachdem er sich gewaschen hatte, nahm er ein Hemd aus seinem kleinen Koffer, zerknittert, aber sauber, und kleidete sich an. Gott sei Dank waren seine Hände wieder ruhig, während er sich rasierte und die Knöpfe schloss. Gerade band er seine Krawatte zu einem schlichten Knoten, da hörte er eine Kutsche unter dem Fenster vorfahren. Ein schlankes Gefährt, gelenkt von einem Postkutscher, überquerte die Brücke zur Insel.

      Ein Schauer überlief ihn. Jetzt wurde es interessant.

      Kurz darauf verließ er sein Zimmer und ging den Flur hinunter. An den Wänden hingen förmliche Porträts von Wilder-Vorfahren. Eine breite, mit Teppich ausgelegte Treppe führte hinunter in eine große Eingangshalle mit mehreren Türen und Fluren, die davon abgingen. Er hörte Frauenstimmen und folgte ihnen zu einer offenen Tür.

      Dahinter erkannte er Miss Wilders Stimme: »Ich bin so erleichtert, dass ihr endlich da seid. Allmählich habe ich mir wirklich Sorgen gemacht. Wir hatten


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