Das Geheimnis von Belle Island. Julie Klassen
Plötzlich registrierte er eine Bewegung. Auf der anderen Brückenseite erschien eine Gestalt im Nebel – eine Frau in einem langen roten Mantel. Die tief sitzende Haube verbarg ihr Gesicht. Dann verschwand sie im Nebel … oder war es eine Erscheinung gewesen?
Er schauderte.
Sei kein Tor!, schalt er sich selbst und betrat entschlossen die Brücke. Ein Schwanken unter seinen Füßen ließ ihn innehalten, alles in ihm sehnte sich zurück nach seinen schäbigen, bequemen Zimmern in London. Aus irgendeinem Grund war ihm klar: Wenn er die Brücke überquerte, würde sein Leben nicht mehr dasselbe sein.
Er schloss die Augen, atmete tief durch und betete um Weisheit und Führung. Dann rief er sich den Zweck seines Kommens ins Gedächtnis. Er war wegen der Firma hier – um Miss Wilder nach dem Tod von Percival Norris juristischen Beistand anzubieten und währenddessen diskret herauszufinden, ob sie oder ein Mitglied ihrer Familie für seinen Tod verantwortlich war. Wenn er Erfolg hatte, würde er damit sein früheres Versagen weitgehend wiedergutmachen.
Schnell ging es ihm besser. Als er die Augen wieder öffnete, begann der Nebel sich bereits zu lichten.
Er dachte über die weibliche Gestalt nach, die er gesehen – oder sich zu sehen eingebildet hatte. War es Isabelle Wilder gewesen? Er hatte das Gesicht der Frau nicht gesehen. Wie alt Miss Lawrences Tante wohl sein mochte? Vierzig? Fünfundvierzig? Aus irgendeinem Grund stellte er sie sich als grimmige alte Jungfer vor, mit Hakennase und einem bösen Funkeln in den Augen.
Durch die letzten Nebelschleier tauchten allmählich die Details der Insel auf. Auf der anderen Brückenseite führte ein bewachsener Pfad zu einer breiten Veranda, die vorn und seitlich um das Haus herumführte. Rechts und links vom Eingang standen zwei Säulen, auf der rechten Seite ragte ein über drei Stockwerke gehender Erker vor. Sein Blick wanderte zu einer um das begehbare Dach laufenden Balkonbrüstung und ein unangenehmer Schauer überlief ihn. Er hatte Höhenangst. Rasch wandte er den Blick ab und ging weiter.
Als er von der Brücke herunter auf die Insel trat, tauchte eine Frau hinter dem Haus auf. Sie war ungefähr in seinem Alter. Hinter ihr her trottete ein struppiger Hund. Die Frau war groß und schlank. Unter ihrer roten Haube quoll hellbraunes Haar, durchwirkt mit goldenen Strähnen, hervor. Jetzt sah er auch ihr Gesicht: Sie war viel zu jung und attraktiv für die alte Jungfer, für die er sie gehalten hatte. Wahrscheinlich war sie eine Gesellschafterin.
Sie erblickte ihn und blieb stehen. »Oh. Guten Tag.«
Er holte tief Luft und begann: »Ich würde gern Miss Wilder sprechen.«
»Das bin ich«, erwiderte sie.
Ungläubig starrte er sie an. Ihr Gesicht war oval und glatt, ihre Augen groß und blau – und trotz der dunklen Ringe darunter, die wie zarte halbmondförmige Schatten wirkten, schien sie eine hübsche, sympathische junge Frau zu sein, die kein bisschen böse oder verschlagen wirkte – auch wenn er mittlerweile nur zu gut wusste, dass das Aussehen oft trügerisch war.
»Sie sind Isabelle Wilder?«
»Schuldig.«
Interessante Wortwahl, dachte Benjamin. Ein leichter Schwindel packte ihn, doch er versuchte, ihn zu ignorieren.
Sie schlug die Augen nieder. »Tut mir leid. Sie haben mich ertappt.«
»Sie ertappt?«, wiederholte er dümmlich. Würde Sie ihm gleich jetzt alles gestehen?
»Ich bin gerade erst aufgestanden. Normalerweise stehe ich früher auf, aber heute Morgen ging es mir nicht so gut.« Der Hund lag träge zu ihren Füßen.
»Ach ja? Ich …«, stammelte er lahm. »Ich bin selbst gerade erst angekommen.«
»Sie sind also auch spät dran? Ich glaube, Mr Linton hat Sie schon vor ein paar Stunden erwartet.«
»Mich erwartet?«
»Ja. Oder sind Sie etwa nicht der Korbflechtmeister, der hier unterrichten soll?«
»Nein, das bin ich nicht.«
»Oh. Entschuldigung. Wer sind Sie dann?«
Er stellte seinen Koffer ab und gab ihr seine Karte. Hoffentlich fiel ihr nicht auf, dass seine Hand ganz leicht zitterte. »Benjamin Booker. Von Norris, Hardy und Hunt.«
Sie betrachtete die Karte. »Onkel Percys Firma. Natürlich.« Sie stieg die Verandastufen hoch und bedeutete ihm zu folgen.
»Merkwürdig, ich habe gerade erst an Percival gedacht. Genauer gesagt, habe ich letzte Nacht von ihm geträumt.«
»Wirklich?«
»Mhm«, antwortete sie leichthin. »Aber das war nicht erstaunlich. Er war ja erst vor ein paar Wochen hier.«
»Das habe ich gehört.«
Sie gingen über die Veranda und sie fragte: »Was führt Sie hierher? Bringen Sie mir ein Schriftstück, das ich unterschreiben soll?«
Benjamin zögerte. Er dachte an den Rat, den Mr Hardy mehr als einem jungen Anwalt erteilt hatte: »Formulieren Sie Ihre Vermutung voller Überzeugung als Tatsache und neun von zehn Personen glauben Sie im Besitz von Belegen und reagieren entsprechend.«
Diesen Satz im Kopf, sagte er: »Sie beide hatten kürzlich einen Streit, so viel ich weiß. Und danach haben Sie ihm einen recht unangenehmen Brief geschrieben.«
Sie verzog das Gesicht. »Ja. Offenbar hat er Ihnen alles erzählt.«
Benjamin zuckte unverbindlich die Achseln.
Sie seufzte. »Ich war wütend. Er besteht drauf, einen Teil der Insel an einen … Fremden zu vermieten. Das würde alles verderben, was ich hier aufzubauen versucht habe.«
»Nun ja, da er jetzt tot ist, ist dieses Problem wohl gelöst.«
Ihr Kopf fuhr zu ihm herum, ihr Mund öffnete sich ungläubig, ihr Gesicht verzerrte sich vor Schreck. »Was? Percival ist tot?«
Er nickte. Seine Benommenheit nahm zu. Nein, nein, nicht jetzt. Reiß dich zusammen, Booker!
Er holte tief Luft. »Wo waren Sie letzte Nacht?«, fragte er.
»Hier auf der Insel.«
»Kann das jemand bezeugen?«
»Äh … ja.«
Ben wurde schwindelig, er stolperte und hielt sich an einer Säule fest.
Sie sah ihn erschrocken an. »Geht es Ihnen nicht gut?«
Er schüttelte den Kopf, doch daraufhin wurde ihm noch schwummriger. Gleich würde er in Ohnmacht fallen. Ausgerechnet vor dieser Frau!
»Mr Booker, was ist los mit Ihnen? Sie sehen sehr schlecht aus.«
Er legte eine Hand auf die Augen. »Mir ist nur … schwindelig. Es ist gleich vorbei.«
»Setzen Sie sich doch, bevor Sie umfallen.« Sie nahm seinen Arm und führte ihn zu einem Stuhl. Ihr Griff war überraschend stark.
Stark genug, um einen Menschen zu töten?
Isabelle betrachtete den Mann, der auf dem Stuhl saß – die Ellbogen auf den Knien, den Kopf in die Hände gelegt. Sie empfand eine Mischung aus Mitleid und Angst bei seinem Anblick. Warum Angst?, fragte sie sich. Sie hatte doch nichts von ihm zu befürchten. Das waren bestimmt nur die Nachwirkungen ihres entsetzlichen Albtraums.
»Ich bin vermutlich der Einzige, der hier das Gefühl hat, dass die Erde sich um ihn dreht?«, murmelte er. »Die Erde bebt wahrscheinlich nicht wirklich?«
»Nein«, antwortete sie freundlich. Sie setzte sich auf das Sofa neben ihn, faltete die Hände und blickte sich um. Was sollte sie jetzt tun?
Wie