Das Geheimnis von Belle Island. Julie Klassen

Das Geheimnis von Belle Island - Julie Klassen


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      »Hat Ihr Onkel einen Terminkalender geführt?«

      »Nicht, dass ich wüsste.«

      »Ich werde trotzdem seinen Schreibtisch durchsuchen.« Officer Riley notierte sich etwas, dann wandte er sich an die Diener: »Einer von Ihnen muss gesehen haben, wie dieser Mann gekommen ist. Können Sie mir seinen Namen sagen oder ihn beschreiben?«

      Die Haushälterin, das Hausmädchen und der Hausknecht schüttelten die Köpfe.

      »Oder den Namen irgendeines anderen Menschen, der etwas gegen Percival Norris hatte?«

      Wieder allgemeines Kopfschütteln. Nur Mr Hardy rührte sich nicht; seine Augen, fiel Benjamin auf, waren plötzlich hell geworden, als hätte er eine Idee oder einen Verdacht.

      Er sagte: »Ich rede nur sehr ungern schlecht über jemanden, der sich nicht verteidigen kann, aber Percival war kürzlich auf Belle Island und hatte dort wohl einen Streit mit Miss Wilder. Er hat mir mit einiger Besorgnis davon erzählt.«

      Officer Riley drehte sich erwartungsvoll zu Miss Lawrence um.

      Die junge Frau zuckte die Achseln. »Möglich. Sie stritten sich manchmal über die Verwaltung des Anwesens. Aber Tante Belle war seit Jahren nicht in London und würde außerdem keiner Seele etwas zuleide tun.«

      »Das stimmt, Sir«, beteuerte die Haushälterin.

      Officer Riley dachte nach. »Gut, ich notiere es mir. Allerdings werde ich vorläufig wohl nach einem etwas wahrscheinlicheren Übeltäter suchen.«

      Er blätterte seine Notizen durch und schien recht zufrieden. »Ich glaube, Wachtmeister Buxton hat recht. Ein Dieb ist durch die unverschlossene Gartentür eingedrungen, hat ein paar Silbersachen eingesteckt und kam dann ins Büro, wo er Mr Norris vorfand. Norris griff nach einer Pistole, die er in der obersten Schreibtischschublade aufbewahrte, doch bevor er schießen konnte, erschlug der Eindringling ihn mit einem harten Gegenstand, möglicherweise mit einem der Beutestücke, die er bei sich hatte.«

      Damit klappte er sein Notizbuch zu und blickte ernst in die Runde. »Ich werde in Erfahrung bringen, ob die fehlenden Silbersachen bei einem Pfandleiher versetzt wurden. Vielleicht finden wir unseren Dieb und Mörder auf diese Weise. Sie können jetzt gehen. Ich behalte mir aber vor, Sie bei Bedarf erneut zu befragen. Haben Sie das verstanden?«

      Alle nickten feierlich, dann verließen die Diener das Zimmer.

      Miss Lawrence schenkte dem Beamten ein betörendes Lächeln. »Wir … wir wollten morgen eigentlich nach Berkshire fahren, in die Nähe von Maidenhead.«

      »Sie wollten die Stadt verlassen? Warum?«

      »Meine Tante konnte nicht an unserer Verlobungsfeier teilnehmen, deshalb wollten wir sie besuchen. Wir brauchen unsere Reise doch nicht zu verschieben?« Sie sah den Beamten mit großen, bittenden Augen an und fragte mit Kleinmädchenstimme: »Dürfen wir morgen nach Belle Island fahren?«

      Der Beamte zögerte, sein Blick ruhte auf dem hübschen jungen Gesicht. »Warum nicht?«, meinte er dann. »Berkshire ist nicht weit weg, falls ich Sie noch einmal kontaktieren muss.«

      »Wunderbar.« Rose Lawrence strahlte. »Meine Tante würde sich Sorgen machen, wenn wir nicht kommen.«

      Er erwiderte ihr Lächeln, verbeugte sich und verließ das Zimmer.

      Benjamin folgte ihm auf den Flur. »Ihre Theorie hat eine Schwachstelle, Officer Riley. Ich habe Hinweise auf eine Vergiftung gesehen, aber ein Dieb würde sich nicht die Mühe machen, sein Opfer zu vergiften.«

      Der Beamte drehte sich um. »Wenn die Untersuchungen des Leichenbeschauers tatsächlich auf ein Gift als Todesursache schließen lassen, werde ich dem natürlich nachgehen.«

      Sie gingen über den Flur, um sich noch einmal den Schauplatz des Verbrechens anzusehen. Dabei bemerkte Benjamin einen kleinen, glänzenden Gegenstand auf dem Teppich und bückte sich, um ihn näher in Augenschein zu nehmen. Es war ein Granatohrring. Der kleine, blutrote Stein war in zarte Goldblätter gefasst. Wahrscheinlich hatte er nichts zu bedeuten, doch er wies Riley dennoch darauf hin.

      »Bestimmt hat Miss Lawrence ihn verloren.« Der Beamte bückte sich ebenfalls und hob ihn auf. »Aber ich werde ihn dem Leichenbeschauer zeigen, nur für den Fall.« Er öffnete vorsichtig die Bürotür. Drinnen hörte Benjamin seinen Bruder mit leiser Stimme dozieren.

      Riley trat in die Haustür, drehte sich um und flüsterte: »Gute Nacht denn« – er zwinkerte ihm zu – »Bennie Benebelt.«

      Ben, froh, den Riley endlich los zu sein, ging weiter zur Hintertür, wo er stehen blieb und überlegte, was er jetzt tun sollte. Dort fand ihn Mr Hardy. Sie sahen zu, wie die Dienstboten sich in verschiedene Richtung entfernten. Vermutlich nahmen sie ihre Pflichten wieder auf oder gingen einfach zu Bett.

      Mr Adair geleitete Miss Lawrence in den Flur. »Du solltest heute Abend lieber zu uns kommen, Rose. Hier bist du womöglich nicht sicher«, sagte er freundlich.

      Miss Lawrence brachte ein schwaches Lächeln zustande. »Vielen Dank.«

      Ihre Gesellschafterin nickte zustimmend und ging zur Bedienstetentreppe. »Ich packe ein paar Sachen für Miss Rose zusammen. Es dauert nur fünf Minuten.«

      Als die Anstandsdame außer Sicht war, stahl der junge Mann sich einen Kuss.

      Benjamin wandte den Blick ab und trat unbehaglich von einem Fuß auf den anderen. Es war ihm nicht recht, untätig hier herumzustehen. »Sollen wir das Haus durchsuchen? Uns noch einmal das Büro anschauen?« Er deutete auf die geschlossene Tür.

      Mr Hardy hob eine Hand. »Das würde Ihrem Bruder gar nicht gefallen. Er würde sich vermutlich dagegen verwahren.«

      »Da haben Sie recht.« Ben seufzte. »Aber wir müssen doch irgendetwas tun. Ich bin ganz und gar nicht davon überzeugt, dass es ein unbekannter Eindringling war.«

      Sein Mentor betrachtete ihn prüfend, dann fuhr er sich mit der Hand über das müde Gesicht. »Die Theorie befriedigt Sie nicht. Mich auch nicht. Wir beide wissen, dass die Bow-Street-Beamten nicht die Zeit haben, den Spuren so sorgfältig nachzugehen, wie wir uns das wünschen. Vor allem dann nicht, wenn sie dafür ihr vertrautes Londoner Umfeld verlassen müssen.«

      »Was wollen Sie damit sagen?«

      »Dass es keine Gerechtigkeit für meinen Freund geben wird, wenn wir untätig bleiben. Ist Ihnen der Blick aufgefallen, den Miss Lawrence und Mr Adair gewechselt haben? Da steckt mehr dahinter, als sie verraten haben.«

      »Ich habe es gesehen.«

      »Und jetzt hat Riley ihnen gestattet, die Stadt zu verlassen und ihre Tante, Isabelle Wilder, zu besuchen, und sie … zu warnen.«

      »Sie zu warnen?«

      Hardy nickte grimmig. »Sie hat sich nicht nur mit Percy gestritten, als sie das letzte Mal hier war; sie hat ihm danach auch noch einen äußerst zornigen Brief geschrieben.«

      Benjamin zog unwillkürlich die Brauen hoch. »Hätten wir das nicht dem Beamten sagen müssen?«

      Der ältere Mann schnitt eine Grimasse; der Gesichtsausdruck betonte seine dünnen Lippen und seine lange, schmale Nase. »Ja, vielleicht. Aber Sie haben ja selbst gesehen, dass Riley nicht daran interessiert war, etwas über Miss Wilder zu erfahren.«

      »Aber der Brief wäre ein konkreter Beweis für Ihren Groll gewesen.«

      »Wenn wir ihn hätten.«

      »Wo ist er?« Benjamin deutete erneut auf die geschlossene Tür. »Wenn er im Büro ist, dann …«

      Hardy schüttelte den Kopf. »Er wurde vernichtet. Er hat mir Teile daraus laut vorgelesen, doch dann war er so wütend, dass er ihn zusammengeknüllt und ins Feuer geworfen hat.«

      Benjamin schnaubte. »Warum? Was hat sie denn geschrieben?«

      »Sie


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