Das Geheimnis von Belle Island. Julie Klassen

Das Geheimnis von Belle Island - Julie Klassen


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Sullivan Mr Stark nur noch einem oberflächlichen Kreuzverhör und rief auch keinen der anderen Zeugen mehr auf, die noch warteten. Benjamin wusste, dass es vorbei war – mit dem Prozess und seiner Karriere. Er hatte sich von einer schönen Lügnerin täuschen lassen, genauso wie Mr Stark. Sein Versagen stand ihm deutlich vor Augen.

      Zum Schluss empfahl sich die Angeklagte der Gnade des Gerichts und bat, unter Verweis auf ihre Armut und Verzweiflung, um ein mildes Urteil.

      Die Jury kehrte nach kurzer Beratung zurück und verkündete das Urteil: schuldig. Der Richter verurteilte die Angeklagte zu sechs Monaten Haft in der Besserungsanstalt und einem symbolischen Bußgeld von einem Schilling.

      Ganz bestimmt würde sie die Anwaltsgebühren nicht bezahlen können. Da Bens Firma Sullivan das Mandat übertragen hatte, würde sie auch sein Honorar übernehmen müssen. Benjamin beschloss, die Summe von seinen dürftigen Ersparnissen zu begleichen.

      Sullivan war gedemütigt und wütend über die schwere Niederlage. Leise fluchend schwor er, allen zu erzählen, dass Benjamin Booker sich für die Unschuld der Frau verbürgt und ihn überredet hatte, den Fall wider besseren Wissens zu übernehmen.

      Benjamin konnte ihm deswegen keine Vorwürfe machen. Er war ebenfalls wütend auf sich selbst, fühlte sich gedemütigt und fürchtete sich vor Mr Hardys Reaktion, wenn dieser von seinem gründlichen Versagen erfuhr. Und das würde nicht lange dauern, wie ihm beim Anblick der wild durcheinanderredenden Zuschauer, darunter manch schadenfroher Widersacher, und der hastig ihre Blöcke vollkritzelnden Zeitungsleute, klar wurde.

      Die Angeklagte wurde abgeführt. Als sie an ihm vorüberging, zwang sich Benjamin, ihr ins Gesicht zu sehen.

      »Es tut mir leid, Mr Booker«, sagte sie. »Ich hätte nie gedacht, dass sie Jane finden würden – nicht nach ihrer Heirat. Und wer hätte gedacht, dass die alte Frau überhaupt noch lebt? Ihr Gasthaus wurde doch schon vor Jahren abgerissen. Aber ich danke Ihnen, dass Sie versucht haben, mir zu helfen.«

      »Das hätte ich nicht, wenn ich gewusst hätte, dass Sie mir das Blaue vom Himmel erzählen.«

      »Oh …«, meinte sie traurig. »Ich vermisse die Wertschätzung, die ich immer in Ihren Augen gesehen habe.« Sie schien mit Mühe die Tränen zurückzuhalten. »Wissen Sie, Enos hat mich sechs Monate nach unserer Heirat sitzen gelassen, wegen einer Opernsängerin. Ich musste zusehen, wie ich mich durchschlagen konnte. Aber leider habe ich zu spät erfahren, wie gefährlich er ist, deshalb habe ich zu meinem eigenen Schutz meinen Namen geändert. Als Mr Stark anfing, mir den Hof zu machen, erschien mir das wie ein Fingerzeig des Himmels. Ich hatte das Gefühl, dass mir keine andere Wahl blieb, als ihn zu heiraten, wenn ich überleben wollte.«

      Ob auch nur ein einziges Wort davon wahr ist?, fragte sich Benjamin. Er hatte genug von ihren Tricks – wie konnte er darauf nur reinfallen – und verließ mit gesenktem Kopf und brennendem Gesicht den Gerichtssaal. Die Buhrufe und Pfiffe verfolgten ihn bis nach draußen.

      Er machte sich auf den Weg ins Büro von Norris, Hardy und Hunt. Mr Hardy war nicht da, er hatte einen Termin mit einem Klienten; Ben würde erst abends mit ihm reden können. So sehr er dieses Gespräch fürchtete, so wenig konnte er es erwarten. Es würde ihn maßlos erleichtern, wenn sein Mentor ihm Absolution erteilte oder zumindest Verständnis zeigte.

      Bis zum Einbruch der Dunkelheit trödelte er im Büro herum, doch schließlich gab er auf und ging. Draußen waren bereits die Straßenlaternen angezündet. Er überquerte Lincoln's Inn Field und trottete die Coventry Street entlang zum Queen's Head. Mr Hardy zog die etwas abgelegene Kneipe dem näher liegenden Seven Stars vor, das ständig so von Juristen überfüllt war, dass man sicher sein konnte, dass jedes Gespräch von den Kontrahenten belauscht wurde.

      Benjamin nahm den Hut ab, trat in die ruhige Gaststätte und sah sich um. Das dunkle Holz, das knisternde Kaminfeuer und die vielen lauschigen Ecken und Winkel verhießen normalerweise Komfort und Behaglichkeit. Aber nicht heute.

      Mr Hardy war bereits da. Er saß, eine Zigarre rauchend, in ihrer üblichen Kaminecke. Der Seniorpartner trank normalerweise nichts Stärkeres als ein halbes Bier, doch heute stand ein Glas Whiskey vor ihm.

      Benjamin konnte ihn gut verstehen. Er hätte sich selbst auch gerne einen starken Drink genehmigt, doch er beherrschte sich, wohl wissend, dass der Trost nur vorübergehend und die Folgen schmerzlich sein würden. Langsam trat er an den Tisch heran. »Es tut mir leid, Sir. Sehr leid. Ich war ganz sicher, dass sie unschuldig ist.«

      Das schmale, gut aussehende Gesicht des Mannes wirkte plötzlich sehr viel älter als seine fünfundfünfzig Jahre. »Das weiß ich. Aber Sie haben Ihren guten Namen für diese Frau aufs Spiel gesetzt … und Sullivans.«

      Benjamin wand sich innerlich. »Ja, Sir. Und jetzt habe ich nicht nur meinen eigenen Ruf ruiniert, sondern den der ganzen Firma. Ich habe wirklich geglaubt, dass …«

      Robert Hardy hob eine Hand. »Wir brauchen nicht alles noch einmal durchzukauen. Sullivan war bereits bei mir und hat mir alles erzählt. Er will keine Klienten mehr von uns übernehmen. Leider ist er einer der Besten.«

      Benjamin setzte sich und war sogleich von einem Nebel aus Tabakrauch, Zitronen- und Gewürzduft umgeben. »Wirklich, Sir, es tut mir so leid. Ich …«

      »Genug der Entschuldigungen«, unterbrach Hardy ihn ungehalten. »Das schafft die Probleme nicht aus der Welt. Jetzt hilft nur entschlossenes Handeln.«

      Benjamin empfand die scharfen Worte wie einen Schlag ins Gesicht. Augenblicklich war er wieder ein kleiner Junge, der sich unter der strengen Missbilligung seines Vaters krümmte. Ob Mr Hardy ihn jetzt hinauswerfen würde? Er könnte es ihm kaum übel nehmen.

      Sein Mentor sah ihn forschend an, sein Blick wurde weicher. »Ich werde Ihnen keine weiteren Vorhaltungen machen, das haben Sie selbst schon zur Genüge getan.« Er seufzte. »Diese verdammte Person!«

      Benjamin nickte. »Ich habe ihr tatsächlich geglaubt, Sir. Sie ist eine unfassbar gute Schauspielerin. Und ich bin ein solcher Narr – ein dummer, leichtgläubiger Tor.«

      Der ältere Mann seufzte. »Sie sind nicht der erste Mann, der sich von einer schönen Frau zum Narren halten lässt, und Sie werden ganz bestimmt nicht der Letzte sein.« Hardy ließ die Flüssigkeit in seinem Glas kreisen. »Es ist vorbei. Sie haben getan, was Sie für richtig hielten. Sie haben viel riskiert, um jemand zu schützen, den Sie schätzten, auch wenn sich diese Einschätzung als falsch erwiesen hat. In gewisser Weise spricht das sogar für Sie. Aber Sie werden dafür bezahlen müssen, täuschen Sie sich nicht!«

      Sein Seniorpartner seufzte abermals und blickte nachdenklich an ihm vorbei ins Leere. »Die letzten Jahre waren schwierig. Der Tod meiner geliebten Frau, die unglückliche Ehe meiner Tochter, Norris geht in den Ruhestand und Capstone verlässt die Stadt und will in einem gottverlassenen kleinen Dorf praktizieren. Ein Hinterwäldler-Advokat! Das haben Sie doch hoffentlich nicht auch vor?«

      »Niemals, Sir. Ich bin ein waschechter Londoner, ich gehe hier nicht weg!«

      Hardy nickte. »Und jetzt das … es ist ein harter Schlag, das kann ich nicht leugnen.«

      Benjamin ließ den Kopf sinken, seine Ohren röteten sich vor Scham.

      Hardy sah es, beugte sich vor und klopfte ihm tröstend auf die Schultern. »Kopf hoch! Wir lassen uns nicht unterkriegen.«

      Er lehnte sich wieder zurück und spielte mit seinem Glas; dabei glitt es ihm aus den Fingern und er vergoss ein paar Tropfen. Ben hatte den Mann selten so unkonzentriert erlebt.

      Mr Hardy sah auf seine Uhr und stand abrupt auf. »Ich wusste gar nicht, dass es schon so spät ist.« Er holte ein Paar abgetragener, fleckiger Handschuhe heraus, kaum besser als Benjamins eigenes Paar. Offenbar litt die Kleidung des Mannes, seitdem keine Frau mehr im Haus war.

      Hardy fuhr fort: »Cordelia hat mich schon vor einer Stunde erwartet.«

      Benjamin stand ebenfalls auf. Er schluckte. »Wie geht es Ihrer Tochter?«, fragte er.

      »Gut.


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