Das Geheimnis von Belle Island. Julie Klassen

Das Geheimnis von Belle Island - Julie Klassen


Скачать книгу
Sir. Das hätten Sie schon früher sagen sollen.«

      »Ich wollte kein Salz in die Wunde reiben.«

      »Aber nein, Sir. Ich freue mich für Sie beide.«

      »Danke.«

      Benjamin folgte ihm hinaus. Sie bogen um die Straßenecke und gingen langsam die Haymarket Street entlang. In ihren Kleidern hing noch der Rauch des Pubs.

      Benjamin, der wusste, dass abends häufig Straßendiebe unterwegs waren, sagte: »Ich bringe Sie nach Hause, Sir.«

      »Nicht nötig.«

      Benjamin lief trotzdem weiter neben ihm. Er war jetzt seit Jahren an der Seite dieses Mannes und es schien ihm das Mindeste zu sein, ihn nach einem so schwierigen Tag nach Hause zu begleiten.

      Am St. James Square hörten sie plötzlich einen Schrei – ein Nachtwächter protestierte lautstark gegen irgendetwas. Sie drehten um und gingen dem Geschrei nach.

      Eine weibliche Stimme brach in lautes Wehklagen aus. Die Anwälte wechselten einen besorgten Blick. Sie eilten an der Statue von William III. vorbei durch den Park.

      Der St. James Square war bei der Oberschicht und beim englischen Adel sehr beliebt, doch in den Reihenhäuschen auf der bescheideneren Südseite wohnten viele Künstler, Politiker und Geschäftsleute.

      Vor dem Eingang des Hauses Nr. 23 stand ein älterer Nachtwächter mit angezündeter Lampe.

      »Das Wilder-Haus«, keuchte Mr Hardy. Er drehte sich mit zusammengepressten Lippen zu Benjamin um. »Hier wohnt Percival Norris.«

      Mr Norris hatte sich kürzlich aus der gemeinsamen Kanzlei zurückgezogen, um sich ganz dem Wilder-Besitz zu widmen, dessen einziger Verwalter und Treuhänder er war. Benjamin hatte den Mann schon eine ganze Weile nicht mehr gesehen, doch sein Name stand nach wie vor auf dem Schild an ihrer Bürotür, auf ihrem Briefpapier und auf vielen alten Akten.

      Hinter dem Nachtwächter stand eine Frau mittleren Alters, offenbar eine Bedienstete, und schluchzte in ihr Taschentuch.

      Mr Hardy wandte sich an den Nachtwächter: »Ich kenne den Gentleman, der hier wohnt. Was ist passiert?«

      »Ich fürchte, er ist tot, Sir.«

      Bei diesen Worten weinte die Dienerin laut auf.

      Der weißhaarige Nachtwächter verzog das Gesicht und deutete mit dem Daumen auf das Haus. »Der Wachtmeister ist gerade hineingegangen.«

      Benjamin sah seinen Mentor an; das Herz tat ihm weh für den Mann, der schon so viel verloren hatte. »Es tut mir leid, Sir.«

      Kurz darauf kam der Wachtmeister durch die Vordertür aus dem Haus heraus. Es war der junge Buxton; Benjamin kannte ihn von ein paar Fällen.

      Als er sie sah, blieb er stehen. »Oh, guten Abend, Mr Hardy. Mr Booker. Wahrscheinlich haben Sie es schon gehört. Mr Norris wurde umgebracht.«

      »Umgebracht?«, wiederholte Mr Hardy ungläubig. »Du lieber Himmel. Wie? Sind Sie ganz sicher?«

      Der Wachtmeister nickte. »Es sieht alles danach aus. Ich schätze, dass es ein Einbrecher war. Ich werde in der Bow Street Bescheid sagen und den Leichenbeschauer informieren.

      »Darf ich hineingehen? Er war ein alter Freund von mir«, fragte Mr Hardy grimmig.

      Wachtmeister Buxton zögerte, dann zuckte er die Achseln. »Warum nicht? Sie als Anwalt wissen ja, dass Sie nichts berühren dürfen. Der Leichenbeschauer wird eine Untersuchung anordnen müssen.« Er wies den Nachtwächter an, Wache zu halten, und machte sich auf den Weg, die entsprechenden Behörden zu informieren.

      »Ich gehe mit Ihnen hinein«, bot Benjamin an.

      Hardy zögerte. »Danke, Ben, aber Sie können ruhig nach Hause gehen. Sie hatten genug Trubel für heute.«

      »Nein, Sir. Das ist das Mindeste, was ich tun kann. Sie sollten jetzt nicht allein sein.«

      Der ältere Mann erhob keine weiteren Einwände, deshalb ging Benjamin mit ihm die Stufen hoch und prüfte das Türschloss. »Keine Anzeichen für ein gewaltsames Eindringen. Gibt es eine Hintertür?«

      »Ja«, antwortete der Nachtwächter. »Sie war unverschlossen und stand offen, als ich kam.«

      Die Dienerin schniefte. »Ich bin die Haushälterin. Ich kann Ihnen den Weg zu seinem Büro zeigen.« Sie führte sie durch das Haus zur Gartentür auf der Rückseite. Benjamin ging neben Hardy; der ältere Mann presste entschlossen die Lippen zusammen. Wie schrecklich zu wissen, dass man gleich den Leichnam eines Freundes sehen würde – der zu allem Überfluss auch noch ein gewaltsames Ende gefunden hatte. Bei dem Gedanken wurde Benjamin eng um die Brust. Er rief sich ins Gedächtnis, dass er dem Tod bereits begegnet war und sehr viel häufiger und detaillierter als ihm lieb war, mit dem Ableben von Menschen zu tun hatte.

      Gemeinsam inspizierten sie die Hintertür auf Zeichen von Beschädigungen, doch sie konnten keine entdecken.

      »Wir schließen diese Tür nicht immer ab«, meinte die Hausangestellte entschuldigend.

      »Wurde ein Fenster eingeschlagen?«

      »Nicht, dass ich wüsste.« Sie deutete auf den Flur. »Die erste Tür rechts. Er hat das Morgenzimmer als Büro genutzt.« Sie begleitete sie jedoch nicht, sondern ging rasch auf demselben Weg zurück, auf dem sie gekommen waren.

      Die Tür, die sie ihnen gezeigt hatte, war geschlossen. Benjamin sah, dass Hardy zögerte, deshalb griff er um ihn herum und öffnete sie.

      Drinnen stand auf einer hohen Anrichte eine Lampe, die das ganze Zimmer erleuchtete. Ein grauhaariger Mann lag mit dem Gesicht nach unten über dem Schreibtisch, eine Wange auf der Tischfläche. Das Haar fiel ihm in die Stirn. Das eine sichtbare Auge starrte blicklos. Sein rechter Arm lag ausgestreckt auf dem Schreibtisch, die Hand umklammerte eine Pistole. Die linke Hand hing, zur Faust geballt, auf der anderen Seite herunter.

      Mr Hardy fixierte die Waffe. »Ich wusste gar nicht, dass er eine Pistole besaß.«

      Benjamin blickte kurz auf seinen fassungslosen Begleiter, dann sah er sich den Leichnam genauer an. Er hatte Percival Norris als kräftigen, selbstsicheren, ja fast großspurigen Mann in Erinnerung. Jetzt lag vor ihnen nur noch die leere Hülle des Menschen, den sie gekannt hatten.

      Benjamin sah sich im Zimmer um. »Durchaus verständlich, dass der Wachtmeister annimmt, er sei von einem Einbrecher getötet worden. Die Schreibtischschublade steht offen. Er hat eine Pistole in der Hand. Vielleicht hat er einen Fremden gehört oder gesehen und nach der Waffe gegriffen. Doch bevor er schießen konnte, hat der Schuft ihn umgebracht.«

      Hardy sah sich um, das Gesicht ungläubig verzogen. »Aber wie? Womit?«

      »Das weiß ich nicht.« Benjamin konnte nichts entdecken, das als Waffe infrage kam, außer einer leeren Karaffe, die auf dem Schreibtisch stand. Und er sah weder Blut noch äußere Verletzungen an dem Toten.

      Dann bemerkte er ein Trinkglas, das zerbrochen auf dem Fußboden auf der anderen Zimmerseite lag. An der Wand war der Streifen einer glänzenden Flüssigkeit zu sehen. War das Glas im Zorn oder aus Gründen der Selbstverteidigung geworfen worden?

      Der junge Wachtmeister kehrte zurück und sagte: »Der Leichenbeschauer wird jede Minute hier sein.« Er blieb in der Tür stehen, legte die Hände auf den Rücken und wiegte sich auf den Fußballen vor und zurück.

      Ein paar Minuten später betrat ein hochgewachsener, dunkelhaariger Mann Mitte dreißig das Zimmer und blieb abrupt stehen, als er neben dem Wachtmeister noch Benjamin und Mr Hardy erblickte. Er war noch sehr jung für das Amt des Leichenbeschauers von Westminster – aber er war schon immer ehrgeizig gewesen.

      Der Leichenbeschauer runzelte die Stirn. »Was machen Sie denn hier? Ist dies der Schauplatz eines Verbrechens oder ein öffentlicher Klub?«

      Der Wachtmeister zuckte zusammen und sagte: »Entschuldigung, Sir. Ich


Скачать книгу