Das Geheimnis von Belle Island. Julie Klassen

Das Geheimnis von Belle Island - Julie Klassen


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finsteren Blick. »Ich kenne sie ebenfalls, aber deswegen hätten Sie sie noch lange nicht hier hineinlassen dürfen.«

      »Es tut mir leid, Sir. Wird nicht mehr vorkommen.«

      Benjamin begrüßte den Mann kühl. »'n Abend, Reuben.«

      »Benjamin.« Der Leichenbeschauer nickte kurz und warf ihm einen scharfen Blick zu. »Hast du nichts Wichtigeres zu tun? Zumal heute?«

      Hatte sein Pech so schnell die Runde gemacht? Benjamin hob kämpferisch das Kinn. »Wichtigeres als der Tod eines Mannes?«

      »Das gehört zu meinem Verantwortungsbereich, nicht zu deinem.«

      »Dann solltest du jetzt besser loslegen.«

      Reuben räusperte sich, warf Benjamin einen wütenden Blick zu und begann anschließend, sich im Zimmer umzusehen. Sein Blick fiel auf den Leichnam und die Waffe in dessen Hand.

      Benjamin deutete auf das zerbrochene Glas.

      Reuben wandte sich an Mr Hardy. »Hatte Mr Norris die Angewohnheit, Gläser an die Wand zu werfen?«

      »Nein«, antwortete Hardy. »Eher die Angewohnheit, sie zu leeren, und zwar oft und schnell.«

      »Soll heißen, er war ein Trinker?«

      Hardy wand sich. »Ich fürchte, ja. Als ich hörte, dass er tot ist, war mein erster Gedanke, dass er sich totgesoffen hat.« Mr Hardy blickte zu Boden, als schäme er sich für seinen alten Freund.

      Benjamin hatte das nicht gewusst. Mr Hardy hatte ihm nie gesagt, dass Mr Norris trank; wahrscheinlich hatte er den Ruf des Mannes schützen wollen.

      Reuben nickte. »Die leere Karaffe bekräftigt das.« Er zog den blauen Glasstöpsel heraus und roch daran. »Gin.«

      Dann zog er ein schmales Instrument aus der Innentasche seiner Jacke und schob dem Toten das Haar aus der Stirn. Jetzt war eine kleine Wunde zu sehen, bedeckt von geronnenem Blut.

      Reuben beugte sich über den Toten und betrachtete eingehend die Verletzung. »Kaum mehr als ein blauer Fleck. Er wurde von irgendetwas getroffen.«

      Mr Hardy riss erschrocken die Augen auf. »Donner und Doria!«

      Benjamin murmelte: »Vielleicht, als er mit dem Kopf auf den Schreibtisch schlug?«

      »Das glaube ich nicht.« Reuben beugte sich über den Mund des Toten und schnupperte. »Kein Gin. Vielleicht … Orangen?«

      Benjamin trat an die Wand, strich mit dem Finger über die klebrige Substanz, die daran herablief, und roch daran. Inmitten der vielen verschiedenen Gerüche im Zimmer – Leder, Möbelpolitur und Tabak – roch er den süßsauren Geruch von Orangen. »Orangenlikör, glaube ich.«

      Sein Geruchssinn war ausgezeichnet – ob dies ein Segen oder ein Fluch war, hing von der Umgebung ab. Als er sich abermals im Zimmer umsah, konnte er weder eine Weinflasche noch eine zweite Karaffe entdecken.

      Er trat an den Schreibtisch und betrachtete Mr Norris' Gesicht genauer. Ein paar Details erregten seine Aufmerksamkeit. Dabei glaubte er, die ernste Stimme seines Vaters zu hören. »Siehst du den Speichel? Und den Schaum? Und wie er die Hand zur Faust geballt hat? Könnte er vergiftet worden sein?«

      Unwillkürlich sprach er den Gedanken laut aus.

      Reuben blickte einen Moment stirnrunzelnd auf den Leichnam hinunter, dann drehte er sich zu Benjamin um. »Bist du der Leichenbeschauer oder ich? Ich habe schon immer gesagt, du hättest lieber Arzt statt Anwalt werden sollen. Aber du wolltest ja nicht auf mich hören. Jedenfalls wäre ich dir dankbar, wenn du deine laienhaften Ansichten für dich behieltest. Das einzige Gift, das ich sehe, ist dieses.« Er deutete erneut auf die leere Karaffe.

      Er warf Benjamin einen abschätzigen Blick zu und straffte die Schultern. »Natürlich werde ich mir das im Rahmen der amtlichen Untersuchung genauestens ansehen. Im Moment halte ich lediglich fest, dass wir es nicht mit einem Unfall oder einer natürlichen Todesursache zu tun haben.« Er nickte dem Wachtmeister zu. »Berufen Sie Ihre Jury ein.«

      Dann schaute er Benjamin an, noch immer verärgert. »Und jetzt, wenn ich dich und Mr Hardy bitten dürfte, den Raum zu verlassen …«

      Als sie zögerten, hob er die Arme und scheuchte sie, wie eine zornige Gans mit den Armen wedelnd, hinaus. »Raus hier! Bis zur Untersuchung hat hier keiner mehr was verloren.«

      Beim Hinausgehen flüsterte Mr Hardy Benjamin zu: »Ihr Bruder ist charmant wie immer.«

      »Ja«, stimmte Benjamin ihm zu und verdrehte die Augen.

      Sie folgten dem Wachtmeister in ein Wohnzimmer, wo sie auf den Detektiv aus der Bow Street warteten.

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      Der Beamte aus der Bow Street war angekommen. In London gab es so viele Verbrechen und so wenige, die sich mit ihnen befassten, dass nicht bei jedem Todesfall eine Untersuchung angeordnet werden konnte. Viele Straftaten blieben deshalb ungeahndet, es sei denn, ein Opfer oder ein Betroffener beauftragte auf eigene Kosten einen Detektiv. Percival Norris allerdings gehörte einer einflussreichen Familie an und war darüber hinaus Mitglied einer geachteten Anwaltskanzlei, deshalb hatte man sogleich einen Beamten für den Fall abgestellt.

      Der Mann ging zuerst in das Zimmer zu dem Toten und dem Leichenbeschauer, wo er einige Zeit verbrachte, dann kam er zu den Wartenden ins Wohnzimmer.

      »Officer Riley von der Bow Street«, stellte Wachtmeister Buxton ihn vor und nannte ihm gleich darauf die Namen der ebenfalls im Wohnzimmer versammelten Bediensteten: Mrs Kittleson, die Haushälterin; Marvin, der Hausknecht; und Mary Williams, das Hausmädchen. Benjamin und Mr Hardy stellte er nicht vor.

      Benjamin nutzte die Gelegenheit, den unbekannten Beamten zu beobachten. Der Mann war Mitte dreißig, hatte braunes Haar, bleiche Haut, abstehende Ohren und einen langen Hals. Die Bow-Street-Beamten waren angeblich erfahren, gut ausgebildet und clever, doch dieser kleine Mann – der ihn irgendwie an ein Wiesel erinnerte – schien so gar nicht in dieses Bild zu passen.

      Der Beamte, dem aufgefallen war, dass der Wachtmeister Benjamin und Mr Hardy nicht erwähnt hatte, wandte sich an sie und fragte mit dem Akzent der Arbeiterklasse: »Und wer sind diese beiden Herren?«

      »Robert Hardy und Benjamin Booker, von Norris, Hardy und Hunt«, antwortete Mr Hardy.

      Der Mann zog die Augenbrauen hoch und unterdrückte mit Mühe ein Feixen. »Ah … der hintergangene Booker, Bennie Benebelt? Ich habe von Ihnen gehört.«

      Benjamin presste die Kiefer zusammen und wurde vor Scham und Wut tiefrot darüber, vor seinem Vorgesetzten und in Gegenwart mehrerer Fremder so bezeichnet zu werden. Bis jetzt hatte er noch nie Grund gehabt, seinen Namen nicht zu mögen. Bis er ihn jetzt in dieser unverschämten Version hörte.

      Die schmalen Augen des Beamten zwinkerten. »Hat die hübsche Angeklagte Ihnen den Kopf verdreht?« Er kicherte. »Hat Ihnen einen Haufen Humbug erzählt, wette ich, und Sie haben den Quatsch auch noch geschluckt.«

      Benjamin ballte die Fäuste. Mr Hardy legte ihm warnend die Hand auf den Arm und erinnerte den Beamten dann höflich an seine Pflicht: »Ein Mann wurde getötet, Officer Riley!«

      »Richtig. Genau.« Der Mann blätterte eine Seite in seinem kleinen Notizbuch um und schüttelte den Kopf. Noch immer umspielte ein Lächeln seinen Mund. Doch dann wurde er ernst und fragte: »Und was hat Sie beide heute Abend hierher geführt?«

      »Wir haben uns im Queen's Head getroffen, wie wir es häufig tun, und waren auf dem Heimweg, als wir den Nachtwächter schreien


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