Das Geheimnis von Belle Island. Julie Klassen
wenn sie bekannt wird, die Journaille magisch anzieht. Und ich weiß nicht, ob unsere Firma im Moment einen weiteren Skandal verkraften kann.«
Benjamins Magen verkrampfte sich. »Wegen meines öffentlichen Versagens.«
Hardys Gesichtsausdruck wurde sanfter. »So würde ich es nicht sagen, mein Junge. Und ich würde auch nicht mehr auf dieses leidige Thema zu sprechen kommen, wenn die Umstände mich nicht zwingen würden. Wir werden uns davon erholen, doch der Zeitpunkt, dass ein weiterer Skandal ans Licht kommt, könnte nicht ungünstiger sein. Percivals Tod ist schlimm genug. Wenn mein Verdacht gegen Miss Wilder sich als unbegründet herausstellt, hätten wir die Zeitungen völlig unnötig auf den Plan gerufen.«
Hardy hielt kurz inne, dann fuhr er entschlossen fort: »Wenn wir tragfähige Beweise dafür finden, dass sie bei Percys Tod ihre Hand im Spiel hatte, werde ich natürlich nicht zögern, den Brief zu erwähnen, doch im Moment glaube ich, dass es das Risiko nicht wert ist. Oder sind Sie anderer Ansicht?«
Benjamin überlegte, dann schüttelte er den Kopf. »Ohne Beweise würde es uns sowieso nichts nützen. Unser Wort stünde gegen das von Miss Wilder.«
»Genau.« Doch dann erhellte sich Hardys Gesicht, wie bei einer plötzlichen Eingebung. »Es sei denn … sie weiß nicht, dass Percy ihn vernichtet hat. Soweit sie weiß, befindet er sich noch unter seinen Papieren.«
»Ah.« Benjamin nickte, er verstand. »Und wenn sie denkt, wir hätten den Brief, wird sie nicht leugnen, ihn geschrieben zu haben, und wird eventuell noch mehr zugeben.«
Hardy nickte und kniff nachdenklich die Augen zusammen. »Ich habe folgende Bitte an Sie: Fahren Sie nach Belle Island, und zwar so schnell wie möglich. Sie wird nicht wissen, warum Sie wirklich kommen. Machen Sie sich am besten gleich auf den Weg, damit Sie noch vor ihrer Nichte dort sind, die sie warnen könnte.«
»Moment – ich soll hinfahren?«
»Ja, Benjamin. Ich weiß, dass Sie nicht gern reisen, aber Sie würden mir und der Firma einen großen persönlichen Gefallen tun. Ich bin im Moment nicht abkömmlich. Der Monkford-Fall, wie Sie wissen, und Cordelias Kind kann jeden Tag kommen. Außerdem muss es Ihnen doch mehr als gelegen kommen, die Stadt ein Weilchen zu verlassen, bis sich die Wogen wegen Ihres Prozesses gelegt haben.«
»Das stimmt allerdings.«
»Es ist ja nicht weit. Sie können mit der Postkutsche nach Maidenhead fahren und von dort eine Droschke mieten.«
»Und einfach so an ihrer Türschwelle auftauchen? Ich habe doch keinerlei Grund, mich dort herumzudrücken und Fragen zu stellen.«
»Oh doch! Es ist ganz einfach professionelle Höflichkeit vonseiten unserer Firma, die traurige Nachricht von Percys Tod persönlich zu überbringen und zu sehen, ob Sie juristischen Beistand braucht.«
Hardy erwärmte sich immer mehr für seine Idee. »Außerdem sind Sie der beste Mann für diese Aufgabe. Sie haben doch Officer Riley gesehen. Miss Lawrence brauchte nur ein bisschen mit den Wimpern zu klimpern und er hat ihr jedes Wort geglaubt. Sie hingegen haben Ihre Lektion gelernt. Sie werden sich nicht noch einmal von einer Frau hinters Licht führen lassen, oder?«
Benjamin zögerte und ballte hinter dem Rücken seine Hände zur Faust. Argwohn und Pflichtgefühl kämpften in ihm.
Als er nichts sagte, beugte Robert Hardy sich vor und sah ihn mit seinen hellen Augen beschwörend an. Seit wann wies das Haar des Mannes so viele silberne Strähnen auf?
»Wollen Sie das für mich tun, Ben? Percival war nicht vollkommen, ich weiß, aber er war mein ältester Freund.«
Benjamin dachte an die vielen Male, die Mr Hardy ihm in den letzten Jahren geholfen hatte. Er hatte ihn eingestellt, als er noch völlig unerfahren war, Ben hatte bei ihm lernen dürfen und stets nur Ermutigung erfahren. Der ältere Mann hatte geduldig zugesehen, wie sein junger Protegé Fehler gemacht hatte, und hatte ihn gelobt, wenn ihm etwas gelungen war. Das war ihm Trost und Ansporn gewesen nach der lebenslangen Distanz und kühlen Missbilligung, die ihm sein Vater entgegengebracht hatte.
Würde er sein vertrautes London, in dem er sein ganzes einunddreißigjähriges Leben verbracht hatte, verlassen und die Unbequemlichkeit der Reise auf sich nehmen, um dem Mann zu helfen, der so viel für ihn getan hatte? Und dabei – hoffentlich – noch einen Mörder der verdienten Gerechtigkeit zuführen?
Ja, das würde er.
Isabelle Wilder war sich vage bewusst, dass sie träumte, doch ihr Traum war so realistisch! Sie hatte ein Ballkleid aus fließend roter Seide an – ein Kleid wie Carlota es trug, wenn sie am Theatre Royal auftrat. Sie fühlte sich wunderschön darin und konnte, während sie die Stufen ihres Londoner Stadthauses hinunterschritt, kaum erwarten, dass das Fest begann.
Evan Curtis stand am Fuß der Treppe. Er trug die Uniform der Infanterie und sah umwerfend darin aus. Mit vor Leidenschaft leuchtenden Augen blickte er zu ihr empor. Ihr Herz raste. Offenbar hatte Onkel Percival seinen Sinn geändert und ihn doch noch eingeladen.
In ihrer Eile, zu ihm hinunterzugelangen, trat Isabelle auf den Saum ihres Kleides. Sie spürte, wie sie stolperte und den Halt verlor. Langsam, fast schwerelos, fiel sie. Ihr Rock bauschte sich wie ein Vorhang und trug sie sanft nach unten.
Evan streckte die Hände aus und sie flog in seine Arme wie ein Vogel in sein Nest. Sie schlang einen Arm um seinen Hals und legte den anderen auf das Revers seiner Uniform, versuchte, seinen Herzschlag zu fühlen, doch sie fühlte … nichts. Einen Augenblick lang drückte er sie fest an sich und sie blickten einander in die Augen.
Dann ließ er sie plötzlich fallen.
Sie landete hart auf der Treppe. Die unterste Stufe kollidierte schmerzhaft mit ihrem Steißbein, ihr Ellbogen krachte gegen den Treppenpfosten.
Vor Schmerz schrie sie auf, doch niemand eilte ihr zu Hilfe. Verwirrt spähte sie den langen, leeren Flur entlang, der völlig still blieb. Inzwischen hätten die Gäste längst bei ihr sein müssen.
Wo waren Rose und die Diener? Und Onkel Percival?
Percival. Isabelle rümpfte die Nase. Er würde sich wohl kaum fröhlich unter die Gäste mischen. Nein, viel eher würde er schmollend in seinem Büro sitzen und über die Rechnungen meckern.
Isabelle kroch auf Händen und Knien die kurze Strecke zu seinem Büro. Onkel Percy hatte das Morgenzimmer, das gleich neben der Hintertür lag, zum Büro umfunktioniert, weil er sich hier mit Geschäftsleuten treffen konnte, ohne mit ihnen durchs ganze Haus gehen zu müssen. Die Tür war unverschlossen. Sie stieß sie auf. Eine leere Weinflasche, die auf dem Boden lag, rollte weg. Sie ging in die Hocke, sah sich in dem Zimmer um … und sog scharf die Luft ein.
Onkel Percy saß vornübergesunken da, sein Kopf lag auf dem Schreibtisch, die Arme waren weit ausgebreitet. Er hatte eine Pistole in der Hand. Ein Auge war geöffnet, doch der Blick war leer. An seiner Stirn klebte Blut.
Isabelle blinzelte. Blinzelte noch einmal in dem Versuch, das entsetzliche Bild loszuwerden, doch vergeblich, es blieb da, wie ein Fleck. Ein Blutfleck.
Dann wurde ihr schwarz vor Augen und sie fiel zu Boden.
Mit dem Gefühl, ihr hätte jemand auf den Kopf geschlagen, wachte sie auf und unterdrückte ein Stöhnen. Erleichtert stellte sie fest, dass alles nur ein Traum gewesen war, auch wenn die Kopfschmerzen durchaus real waren. Es war nur ein Traum, sagte sie sich, doch das schreckliche Bild ließ sie nicht los. Ihr war übel.
Sie war natürlich nicht in London, sondern in ihrem Bett auf Belle Island, meilenweit