Das Geheimnis von Belle Island. Julie Klassen

Das Geheimnis von Belle Island - Julie Klassen


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rotes Kleid getragen hatte. Und Evan Curtis hatte sie seit fast zehn Jahren nicht mehr gesehen.

      Sie schlug die Augen auf, doch das helle Tageslicht verstärkte ihren Kopfschmerz und sie schloss sie rasch wieder. Jetzt stöhnte sie doch noch auf.

      »Miss?«, fragte Carlota. In ihrem weichen spanischen Akzent klang es wie Mies. »Sind Sie wach?«

      »Mhm«, murmelte Isabelle.

      »Der Arzt war hier.«

      »So früh?«

      »Eigentlich … ist schon ein Uhr vorbei.«

      Isabelle riss die Augen auf. »Nachmittags?«

      Carlota kicherte. »Ja.«

      Isabelle schlug die Bettdecke zurück. »Oh nein! Ich wollte doch vormittags in den Betrieb. Der Korbmacher wollte heute kommen.«

      »Ich habe versucht, Sie zu wecken, aber Sie haben mich rausgeworfen. Aber keine Sorge, ich habe für Sie mit Mr Linton gesprochen.«

      Isabelle stand mit steifen Gliedern auf. Sie dachte an ihren mürrischen, aber fähigen Vorarbeiter. »Was hast du ihm gesagt?«

      »Ich sagte ihm, dass Sie unpässlich sind, und bat ihn, den Korbmacher an Ihrer Stelle in Empfang zu nehmen. Anscheinend hat seine Kutsche Verspätung. Mr Linton murrte etwas von Frauenbeschwerden, was ich weder bestätigte noch abstritt. Mrs Philpotts und ich haben das Mittagessen aufgetragen. Die Weber essen jetzt, während sie warten.«

      »Danke, Lotty. Du bist ein Schatz.« In den meisten Häusern wurden die Zofen mit dem Nachnamen angeredet, doch Carlota Medina war keine gewöhnliche Zofe.

      Lotty fügte hinzu: »Der Doktor ist zuerst zu Abel und den Howtons gegangen und schaut später noch einmal vorbei.«

      »Gut.« Isabelle rieb sich den Ellbogen, dann lief sie zur Ankleidekommode. Sie schlüpfte in frische Wäsche. Carlota brachte ihr neue Strümpfe und ein Korsett.

      »Schlimm, dass ich an einem so wichtigen Tag nicht da war, zumal die Weber sich extra Zeit für ihn genommen haben.«

      »Machen Sie sich keine Vorwürfe«, sagte Carlota, während sie das Korsett schnürte. »Es ist spät geworden gestern. Und es war nicht leicht für Sie.«

      Isabelle presste die Finger an die schmerzenden Schläfen. »Erinnere mich nicht daran.«

      Gestern Abend … der Abend der Verlobungsfeier ihrer geliebten Nichte, und sie war nicht dabei gewesen. Dummerweise hatte sie versucht, ihren Kummer im Alkohol zu ertränken – jetzt musste sie dafür bezahlen.

      Als Carlota ihr das Kleid überstreifte, kam Isabelle plötzlich eine schöne Erinnerung. Wie sie zusammen mit ihren Eltern die Brücke zur Insel überquerte, um an der Hochzeit ihrer Schwester in der Dorfkirche teilzunehmen, umgeben von Freunden und Nachbarn. Nach dem Gottesdienst waren sie alle zusammen zum Hochzeitsfrühstück gegangen, lachend und glücklich, voller Freude, einfach nur zusammen zu sein. Was würde sie darum geben, diese Erinnerung noch einmal lebendig werden zu lassen und dabei zu sein, wenn Rose in der Dorfkirche heiratete, im Kreise von Freunden und Nachbarn, und sie dann alle zu einem freudigen Hochzeitsfrühstück auf Belle Island zu empfangen!

      Doch dieser Traum, dachte Isabelle, war unerfüllbar.

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Ornament

      An diesem Nachmittag saß Benjamin in einer Tageskutsche, die von London aus nach Westen fuhr, und wurde tüchtig durchgerüttelt. Berkshire lag nur gut dreißig Meilen entfernt, doch ihm kam die Fahrt ewig vor. Er hatte Angst, krank zu werden oder – der Himmel mochte es verhüten – einen seiner Anfälle zu erleiden.

      Ihm gegenüber saßen ein stoischer alter Geistlicher und eine streng blickende Frau in Schwarz. Der junge Gentleman neben ihm, dessen Gesicht fast so grün wie sein schicker Gehrock war, bedauerte, sich gestern Abend zu ausgiebig dem Port gewidmet zu haben. Plötzlich wölbten sich seine Wangen und er übergab sich; leider schaffte er es nicht mehr ganz, sich aus dem Fenster zu hängen. Das Geräusch und der Gestank hätten Ben beinahe seine gute Erziehung vergessen lassen.

      Der junge Mann entschuldigte sich verlegen bei seinen Mitreisenden. Benjamin öffnete das Fenster auf seiner Seite – nur für den Fall –, dann reichte er dem Gentleman mitleidig lächelnd sein Taschentuch.

      Daraufhin schloss er die Augen, sog tief die frische Luft ein und kämpfte gegen seine eigene Übelkeit an. Er atmete mehrmals tief ein und mit einem langen Huuuh wieder aus. Der Anflug eines Anfalls verschwand langsam.

      Das Schlimmste war hoffentlich überstanden. Er wollte seinen Auftrag zur vollen Zufriedenheit von Mr Hardy erfüllen und dafür musste er, wenn er auf Belle Island eintraf, das Bild eines kompetenten, gelassenen Anwalts abgeben.

      Wenn er sich konzentrierte, spürte er noch immer Mr Hardys tröstliche Hand auf seiner Schulter – eine Geste, die mehr an väterlicher Zuneigung zum Ausdruck brachte, als Benjamin seit Jahren erlebt hatte. Dabei wäre es eigentlich an ihm gewesen, seinen Vorgesetzten zu trösten, denn Robert Hardy hatte nicht nur einen Partner seiner Anwaltsfirma verloren, sondern auch einen alten Freund.

      Du schaffst das, redete Benjamin sich gut zu. Um seinetwillen musst du es schaffen.

      Die Straße, die die Kutsche nahm, verlief eine Zeit lang parallel zur Themse. Benjamin blickte auf das Wasser, auf dem die Sonnenstrahlen tanzten. Er sah die Boote und hin und wieder einen Fischer und dachte an die Sommer seiner Kindheit, in der sein Vater seine Praxis tatsächlich für ein paar Tage geschlossen hatte und mit ihnen in eine Fischerhütte gefahren war. Benjamin und sein Bruder hatten so manche heitere Stunde an dem malerischen Ufer verbracht, hatten Ruderbootrennen veranstaltet, Fischen gelernt und Feuerholz gesammelt, während sein Vater, ganz der Arzt, ihre Fänge mit kundiger Hand filetierte, Mama sie kochte und sie alle zusammen den Tag verbrachten, redend und lachend. Das Bild einer glücklichen Familie. Es schien ewig her zu sein.

      Endlich langten sie am Bear Inn in Maidenhead an und Benjamin mietete einen Fahrer – einen jungen Mann mit einem kleinen, einspännigen Gig, der ihn den letzten Reiseabschnitt fahren sollte. Das klapprige Gefährt hatte starke Schlagseite und besaß nicht eine einzige Feder oder sonstige Bequemlichkeit.

      Nach fünfzehn halsbrecherischen Minuten erreichten sie die Außenbezirke von Riverton. Das Dörfchen lag in einer Flussbiegung, die Kirche, die Häuser und Läden standen auf einer kleinen Anhöhe und wurden von dichtem Nebel verschluckt.

      Der Fahrer deutete auf eine Holzbrücke, die über den Fluss führte; sie war gerade breit genug für eine Kutsche.

      »Über diese Brücke kommen Sie zur Insel, Sir«, sagte der junge Mann. »Die Wilders leben seit Ewigkeiten hier. Wenn der Nebel sich gelichtet hat, werden Sie das Haus sehen. Ist es in Ordnung, wenn ich Sie hier absetze?«

      »Wie? Ja, gut.« Benjamin bezahlte den Mann, stieg auf wackeligen Beinen aus und sah sich um. Er hörte noch das leise Gehen Sie einfach weiter des Fahrers, dann fuhr das Gig an. Benjamin konnte den Blick nicht vom gegenüberliegenden Ufer wenden.

      Durch den grauen Nebel erkannte er schemenhaft ein hohes steinernes Herrenhaus, dicht von Efeu bewachsen. Näher am Ufer hingen Zweige über dem Wasser – dornige Wacholder- und Haselsträucher, Trauerweiden und Ulmen, deren altehrwürdige Kronen sich kummervoll neigten. Sie streckten die Arme aus und wehrten ihn ab, schienen ihn warnen zu wollen, seinen Weg fortzusetzen.

      Benjamin runzelte die Stirn. Was für ein dummer Gedanke! Offenbar hatte ihm die Reise den Kopf vernebelt.

      Während er so dastand und hinüberschaute, schien die Brücke sich zu bewegen. Das Geländer verengte


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