Das Geheimnis von Belle Island. Julie Klassen

Das Geheimnis von Belle Island - Julie Klassen


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Ornament

      Benjamin lag auf dem Bett, wie der Arzt es angeordnet hatte, doch seine Untätigkeit machte ihm zu schaffen. Ein Diener namens Jacob kam herein und fragte, ob er etwas brauchte.

      »Nein, danke.«

      Benjamin beschloss, den jungen Mann ein wenig auszuhorchen. »Sind Sie schon lange hier angestellt?«

      »Ungefähr vier Jahre, Sir. Es ist eine gute Arbeit.«

      »Nur aus Neugier: Hält Miss Wilder eine Kutsche und einen Kutscher?«

      »Nein, Sir, nicht, seitdem ich hier bin.«

      »Wie reist sie denn dann? Mit der Postkutsche?«

      Jacob schüttelte den Kopf. »Sie reist überhaupt nicht.«

      »Sie hat die Insel also nicht kürzlich verlassen?«

      »Nein, Sir. Entschuldigen Sie, aber ich muss jetzt wieder an die Arbeit.«

      Der loyale Diener konnte sich gar nicht rasch genug entfernen. Von ihm würde Benjamin bestimmt nichts mehr erfahren.

      Ben nahm ein Buch zur Hand, das er mitgebracht hatte, und las ein bisschen, um sich die Zeit zu vertreiben.

      Etwas später klopfte es erneut an der Tür. Er blickte auf und rechnete damit, dass der Diener wieder hereinkam.

      Doch in der Tür stand Miss Wilder und neben ihr eine andere Frau, ein Tablett in den Händen. »Wir bringen Ihnen etwas zu essen, Mr Booker, Sie müssen Appetit haben, nach der langen Reise.«

      Er freute sich mehr über die Gelegenheit, ihr ein paar Fragen zu stellen, als über das Essen, und richtete sich zu einer sitzenden Position auf. »Danke. Kommen Sie doch herein.«

      Die zweite Frau trat als Erste ein und stellte das Tablett auf das Nachttischchen. Miss Wilder blieb auf der Schwelle stehen. »Sie haben hoffentlich nichts dagegen, dass wir gekommen sind, aber Jacob hat draußen zu tun.«

      »Aber nein, gar nicht.« Bens Gehrock hing noch über der Stuhllehne, doch ansonsten war er korrekt angezogen.

      Miss Wilder deutete auf ihre Begleiterin, die er für eine Dienerin gehalten hatte. »Das ist Miss Carlota Medina. Sie arbeitet für mich und sie ist meine Freundin.«

      Er nickte der Frau zu und sah sie genauer an. Sie hatte einen mediterranen Hautton – eine Farbe wie Schwarztee mit Sahne, dunkle Augen und schwarzes, zurückgenommenes Haar. Sie war durchaus attraktiv, doch ihr Ausdruck hatte etwas Schwermütiges und aus der Nähe gesehen war sie eindeutig ein paar Jahre älter als Miss Wilder.

      Benjamin fühlte sich unter den Blicken der beiden Frauen ein wenig im Nachteil und wünschte plötzlich, dass er wenigstens seinen Gehrock tragen würde. »Bitte verzeihen Sie mir, dass ich hier so hemdsärmelig liege, meine Damen.«

      »Das macht doch nichts«, antwortete Miss Wilder. »Ich bin nicht so leicht zu schockieren, schließlich hatte ich einen Bruder.«

      Und ihre Freundin fügte mit einem leichten spanischen Akzent hinzu: »Und ich habe Männer in sehr viel weniger bekleidetem Zustand gesehen, das dürfen Sie mir glauben.«

      »Lotty!«, rief Isabelle lachend, halb indigniert, halb amüsiert.

      »Ich rede ja bloß von meiner Zeit beim Theater.«

      Miss Wilder lächelte ihr zu. »Mr Booker kennt deinen speziellen Sinn für Humor noch nicht.«

      Sie drehte sich wieder zu ihm um und sah ihn an. »Wie geht es Ihnen jetzt?«

      »Besser. Aber Ihr Arzt-Freund besteht darauf, dass ich liegen bleibe, bis er wiederkommt.«

      Sie nickte. »Dr. Grants Ratschläge sind sinnvoll. Sie sind gut beraten, sich daran zu halten.«

      Die andere Frau schnaubte nur, als sie das hörte, doch als Benjamin zu ihr hinüberblickte, verriet ihre Miene nichts.

      »Sie sagten, Sie hätten gestern in London meine Nichte gesehen, stimmt das?«, fragte Miss Wilder.

      »Ja. Sie und Mr Adair wurden von einem Officer aus der Bow Street befragt und beschlossen danach, die Nacht im Haus seiner Familie zu verbringen. Mr Adair glaubte sie dort sicherer als in dem Haus, in dem Mr Norris getötet wurde.«

      Miss Wilder zuckte zusammen. »Sehr verständlich.« Sie klammerte sich an die Lehne des nächststehenden Stuhls. »Und haben Sie Mr Norris gesehen?«

      »Ja.« Plötzlich stand ihm das Bild wieder vor Augen. »Er lag über seinem Schreibtisch, die Pistole in der Hand.«

      Miss Wilder ließ sich schwer auf den Stuhl fallen. Sie wirkte zutiefst erschrocken. »Wurde er erschossen?«

      »Nein. Anscheinend hat er die Pistole aus der Schreibtischschublade genommen, aber sie wurde nicht abgefeuert.«

      »Wie … wie geschah es dann?«

      »Wie ich schon sagte, anscheinend erhielt Mr Norris einen Schlag mit irgendeinem Gegenstand auf den Kopf, doch wir wissen nicht, womit. Das Urteil des Leichenbeschauers steht noch aus.«

      »Vielleicht mit einer Weinflasche?«

      Er starrte sie an. »Wie um alles in der Welt kommen Sie denn darauf?«

      Sie blinzelte. »Ich … ich weiß es nicht. Egal.«

      Er schaute sie eindringlich an, konnte jedoch nur Verwirrung und Sorge in ihrem Gesicht erkennen. »In dem Raum war keine Flasche«, sagte er dann. »Nur eine leere Karaffe. Allerdings wurde ein Trinkglas an die Wand geworfen, wie im Zorn. Oder zur Selbstverteidigung.«

      »Ich verstehe.« Sie schluckte. »Und was machte Rose für einen Eindruck? Gewiss war sie schockiert und fassungslos, oder?«, fragte sie.

      »Im Gegenteil. Sie wirkte bemerkenswert gefasst. Sie und Mr Norris schienen sich nicht sehr gewogen zu sein.«

      »Nun, ich …«

      »Wer könnte ihr deswegen auch einen Vorwurf machen?«, warf Miss Medina zornig ein. »Der Mann war ein solcher Unsympath.«

      »Warum das?«, fragte Benjamin nach.

      »Lotty, bitte«, beschwichtigte Isabelle. »Er war schließlich ein Verwandter von uns, auch wenn wir in unseren Ansichten nicht übereinstimmten.«

      Isabelle sah auf die Uhr und spielte mit der Schlüsselkette an ihrem Gürtel. »Apropos Familie, Rose und Mr Adair geht es doch hoffentlich gut? Sie wollten mich eigentlich besuchen, genau genommen müssten sie längst hier sein.«

      Benjamin nickte. »Der Ansicht war ich auch. Sie sagten dem Bow-Street-Beamten, dass sie heute fahren wollten.«

      Isabelle rang beinahe die Hände. »Sie tragen nicht gerade dazu bei, meine Ängste zu beschwichtigen.«

      Er zuckte die Achseln. »Vielleicht hatte der Beamte noch ein paar Fragen an sie. Möglicherweise vermutete er, dass sie mehr über den Tod wissen, als sie sagten.«

      »Wenn mich das beruhigen sollte – das tut es nicht!«

      »Es war lediglich ein Erklärungsversuch.«

      »Ich frage mich, ob Sie wohl viele Freunde haben, Mr Booker. Die Fähigkeit, Trost zu spenden, ist eine Freundestugend.«

      »Äh – zum Glück haben Sie dafür ja Mr Grant«, sagte er kühl.

      »Stimmt. Und Lotty.«

      Diese nahm ihr Stichwort auf: »Ich bin ganz sicher, dass Rose wohlauf ist, Miss.«

      »Da hast du sicher recht. Aber du weißt ja, dass ich mir so schnell Sorgen mache.«

      Benjamin beschloss, nachzuhaken: »Sie sprachen von einem Bruder, Miss Wilder. Wo ist er?«

      »Tot, leider. Er ging als


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