Das Geheimnis von Belle Island. Julie Klassen
dem Fest ist doch alles gut gegangen, hoffe ich?«
»Ja, angesichts des Ortswechsels in letzter Minute ist es ein wahres Wunder. Aber das ist nicht der Grund für unsere Verspätung. Tante Belle, ich muss dir leider eine schlimme Nachricht mitteilen.«
»Wenn es um Onkel Percivals Tod geht – das weiß ich bereits. Es ist schrecklich.«
Ein Moment respektvollen Schweigens verstrich, dann fragte Miss Wilder plötzlich: »Was meinst du mit dem kurzfristigen Ortswechsel? Fand das Fest denn nicht wie geplant in unserem Londoner Haus statt?«
Benjamin stand in der Tür eines zwanglosen Morgenzimmers. Drinnen saßen Isabelle Wilder und Rose Lawrence gemütlich beisammen und tranken Tee, ganz vertieft in ein angeregtes Gespräch. Mr Adair hatte mit ausgestreckten Beinen in einem Sessel Platz genommen, halb verborgen hinter einer Londoner Zeitung.
Miss Lawrence schüttelte den Kopf; ihre Augen sprühten vor Zorn. »Nein. Zum Schluss hat Onkel Percy es abgelehnt, wegen der Kosten.«
»Aber …! Das ist doch Tradition in unserer Familie. Dort haben deine Eltern ihre Verlobung gefeiert und davor meine Eltern.«
»Ich weiß. Ich habe auch versucht, es ihm zu erklären, aber er wollte nicht hören.«
»Meine Liebe, das tut mir so schrecklich leid. Du hättest es mir schreiben sollen.«
»Es kam ziemlich überraschend, da blieb dafür keine Zeit mehr. Zum Glück sind Christophers Eltern eingesprungen und haben ihr Haus zur Verfügung gestellt. Aber es war ein fürchterlicher Aufwand, noch allen Bescheid zu geben und das Geschirr und das ganze Essen, das Mrs Kittleson schon bestellt hatte, hinüberzuschaffen.«
»War es sehr peinlich?«
»Eigentlich nicht. Ich habe es auf Onkel Percys schlechten Gesundheitszustand geschoben.« Rose schlug eine Hand vor den Mund. »Oh! Ich hätte mir nicht träumen lassen, wie prophetisch das war!«
Rose sah ihre Tante an und ließ die Hand wieder sinken. »Aber es kann doch noch gar nicht in der Zeitung gestanden haben. Woher weißt du es denn?«
Benjamin räusperte sich, um sich bemerkbar zu machen, und betrat das Zimmer.
Als die junge Frau ihn sah, öffnete sie überrascht den Mund. »Oh … Mr Brooks, nicht wahr?«
»Booker.«
Mr Adair ließ die Zeitung sinken und runzelte die Stirn. »Was macht er denn hier?«
Benjamin wandte sich weltmännisch an das Paar: »Guten Tag, Miss Lawrence, Mr Adair. Hatten Sie eine angenehme Reise?«
Die beiden starrten ihn nur sprachlos an.
Isabelle brach das peinliche Schweigen. »Mr Booker ist ein Anwalt aus Onkel Percys Kanzlei. Er hat mir die Nachricht persönlich überbracht. Wie geht es Ihnen heute Morgen, Mr Booker? Besser, hoffe ich!«
»Ja, vielen Dank.« Miss Wilder wirkte heute ebenfalls frischer, dachte Ben. Ihre blauen Augen blickten hell und ausgeruht.
Mr Adair faltete seine Zeitung zusammen. »Hmpf. Sie haben wirklich keine Zeit vergeudet. Die Geier können es wohl nicht erwarten, einen neuen Vormund zu benennen?«
In Miss Wilders Gesicht trat ein leicht besorgter Ausdruck. »Oh. Daran hatte ich noch gar nicht gedacht.«
»So, wie ich Onkel Percy kenne, hat er längst einen ernannt.« Rose Lawrence kräuselte die Lippen. »Jemand, der noch herrschsüchtiger und knickeriger ist, als er es war.«
Miss Wilder legte ihrer Nichte warnend die Hand auf den Arm. »Schhh, meine Liebe. Das wollen wir doch nicht hoffen.« Sie sah ihn an. »Sind Sie deshalb hier, um uns einen neuen Vormund zu nennen, Mr Booker? Das hatten Sie gar nicht erwähnt.«
Er schüttelte den Kopf. »Nein. Erstens gibt es nach dem Tod von Mr Norris wichtigere Dinge und« – er wählte seine Worte mit Bedacht – »zweitens geht es darum, wer davon profitiert.«
Doch Miss Wilder wandte sich an ihre Nichte. »Mr Booker weiß, dass Percival und ich uns gestritten haben. Anscheinend glaubt er, ich hätte ihn getötet«, sagte sie frei heraus.
»Was?!«, platzte Rose heraus.
Benjamin wappnete sich gegen einen verbalen Ausfall. Doch statt des Wutanfalls, den er erwartet hatte, kicherte Miss Lawrence. »Das ist wirklich köstlich! Da haben Sie sich aber gründlich verrannt, Mr Booker. Tante Belle? Können Sie sich vorstellen, dass sie sich nach London geschlichen hat, den Mord begangen hat und wieder heimlich, still und leise zurückfuhr, ohne dass irgendjemand es mitbekommen hat?« Die junge Frau schüttelte sich vor Lachen. »Tut mir leid, aber das ist wirklich zu lächerlich!«
Mr Adair jedoch war gar nicht amüsiert. »Rose, beherrsche dich bitte! Das ist nicht zum Lachen.«
Benjamin hob das Kinn. »Warum sollte das so außer Frage stehen? Ihre Tante gibt zu, dass sie zornig auf Mr Norris war und Grund hatte, ihn tot zu wünschen.«
Rose sah ihn an, ihr Blick war plötzlich eiskalt, dann wandte sie sich an ihre Tante. »Weiß er es denn nicht?«
Miss Wilder zuckte, peinlich berührt, die Achseln. »Möglicherweise ist mir mein Ruf vorausgeeilt. Vielleicht hat Percival es auch gelegentlich erwähnt.«
»Was erwähnt?«, schnappte Benjamin, irritiert, weil er die Ursache für Miss Lawrences Heiterkeitsausbruch war und nicht wusste, warum.
»Meine Tante hat diese Insel seit fast zehn Jahren nicht mehr verlassen.«
Er drehte sich um und starrte Miss Wilder ungläubig an. Die Londoner Haushälterin hatte erwähnt, dass sie seit Jahren nicht in London gewesen war, doch davon hatte sie nichts gesagt!
Miss Wilder rutschte unbehaglich auf ihrem Stuhl herum und wandte den Blick ab. Verlegen rieb sie sich den Nacken. »Du meine Güte. Es so ausgesprochen zu hören, lässt mich dastehen wie eine Verrückte.«
Miss Lawrence wollte ihrer Tante beistehen und wechselte schnell das Thema. »Wie lange werden Sie denn bleiben, Mr Booker?«
»Das weiß ich noch nicht. Ein oder zwei Tage. Aber ich werde heute Abend ins Gasthaus übersiedeln.«
Miss Wilder straffte sich. »Mr Booker, eine Frage wegen der Vormundschaft. Besteht die Möglichkeit, sie aufzuheben? Rose und ich können unsere Geschäfte selbst wahrnehmen.«
Verdutzt über diese unerwartete juristische Frage, schwieg Benjamin und überlegte einen Moment. »Das würde davon abhängen, wie der ursprüngliche Aussteller der Urkunde – Ihr Vater, nehme ich an – den Treuhandvertrag gestaltet hat. Ich müsste mir die Bedingungen ansehen.«
»Würden Sie das für uns tun? Ich bezahle natürlich Ihr übliches Honorar.«
Mr Adair zischte: »Vorsicht, Miss Wilder. Ich glaube kaum, dass er die beste Wahl ist. Soll ich nicht lieber meinem Vater schreiben? Sein Anwalt wäre objektiver.«
»Aber Mr Booker ist hier und als Mitglied von Percivals Kanzlei hat er Zugang zu den Treuhandunterlagen, dem Testament und anderen Unterlagen, die er braucht. Übernehmen Sie den Auftrag, Mr Booker? Ich wüsste gern, was auf Rose und mich und das Anwesen zukommt.«
»Sind Sie denn nicht im Besitz der Kopie Ihres Vaters von den Treuhanddokumenten?«
Sie schüttelte den Kopf. »Soweit ich weiß, hat Onkel Percy sie – hatte sie – in London.«
Benjamin zögerte. Ihre Bitte lieferte ihm einen Grund, die Korrespondenz und die übrigen Papiere durchzusehen und dabei vielleicht auf Beweise zu stoßen. Außerdem brauchte die Kanzlei im Moment wirklich jeden zahlenden Klienten, den sie bekommen konnten.
»Na gut«, antwortete er. »Ich will sehen, was ich herausfinden kann.«
Isabelle