Fürchtet euch nicht. Betsy Duffey

Fürchtet euch nicht - Betsy  Duffey


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Tischdecken, mit denen die Tische im Gottesdienstraum für Feierlichkeiten gedeckt worden waren. Er nahm eine heraus. Als er sie ausschüttelte und ins Licht hielt, entdeckte er viele kleine Löcher. In dieser Kiste hatten einige kleine Lebewesen einen warmen Winter verbracht und sich durch den Damast gefressen. Auch diese Entscheidung war leicht. Müll.

      Während er eine Kiste nach der anderen vor die Tür stellte, traf Walter ein und machte sich sogleich daran, die aussortierten Gegenstände nach draußen zum Müllcontainer zu tragen.

      Jeremy arbeitete sich von Kiste zu Kiste vor und traf seine Entscheidungen mit erstaunlicher Klarheit. Vieles wanderte in den Müll, aber einige Sachen, zum Beispiel die Abendmahlskelche, wollte er den Gemeindemitgliedern als Erinnerungsstücke anbieten. Er sprach ein stilles Gebet und dankte Gott für seine Führung und Hilfe.

      Am späten Vormittag war der Lagerraum so gut wie leer.

      Jeremy hatte es tatsächlich geschafft! Endlich war der Raum ausgeräumt, genau wie Danny Cappers es wollte. Nur noch diese letzten Teile …

      So schlimm war das gar nicht gewesen. Vielleicht sollte er sich seinen Dachboden zu Hause auch mal vornehmen.

      Alte Sachen ausmisten, um Platz zu schaffen für neue Möglichkeiten.

      „Wir sind fast fertig“, sagte Walter, der jetzt neben dem Pastor stand. Seit mehr als einem Jahr arbeitete er inzwischen für die Gemeinde, nachdem er etliche Jahre obdachlos gewesen war. Jeremy war dankbar für seine Unterstützung und die Ruhe, die er ausstrahlte. Walter machte ihm die Arbeit um einiges leichter.

      Jetzt mussten sie sich nur noch die linke hintere Ecke vornehmen.

      „Was um alles in der Welt ist das denn?“ Jeremy schob eine alte Leinwand zur Seite und stand vor einem mit einem Tuch bedeckten, sperrigen Gegenstand.

      Walter stieß einen leisen Pfiff aus.

      Der Pastor trat näher, atmete tief durch und machte sich daran nachzuschauen, was sich unter dem Tuch verbarg. Ein ungewöhnliches Gebilde. So sehr er sich auch anstrengte, ihm fiel nichts ein, was so sperrig war und so viel Platz in Anspruch nahm.

      Beherzt zog er das Tuch herunter und stellte fest, dass es sich nicht um einen einzelnen Gegenstand handelte, sondern um mehrere, die man übereinandergestapelt hatte. Jeder Gegenstand war in eine dicke schwarze Plastikfolie eingeschlagen. Jeremy wickelte den ersten aus seiner Verpackung aus. Seine Überraschung hätte größer nicht sein können: Eine Person starrte ihn an, ihre Arme waren ausgestreckt.

      Er trat einen Schritt zurück und betrachtete verblüfft den etwa ein Meter zwanzig großen Mann mit Turban, der ein goldenes Kästchen in der Hand hielt. Sein violettes, mit roter Bordüre eingefasstes Gewand verlieh ihm eine königliche Erscheinung.

      Einer der drei Weisen.

      Jeremy musterte eingehend die anderen Gegenstände, und ihm wurde klar, dass er vor den Krippenfiguren stand, die jedes Jahr zu Weihnachten aufgestellt wurden.

      Er schloss die Augen und rief sich in Erinnerung, wie die Figuren auf dem Rasen vor der Kirche standen: Josef blickte hinab auf die sitzende Maria, die die Arme nach dem Jesuskind ausstreckte. Die drei Weisen in ihrer prachtvollen Kleidung, in ihren Händen die Geschenke, die sie für das Kind mitgebracht hatten. Der Engel, der die goldene Posaune an die Lippen hielt. Einige Tiere und die Hirten mit einem Ausdruck des Erstaunens auf ihren Gesichtern. Sie streckten die Hand aus und deuteten auf das Kind.

      „Das ist Balthasar!“, sagte er zu Walter.

      „Wer?“

      „Einer der drei Weisen. Das sind die Krippenfiguren.“

      Mit Walters Hilfe befreite Jeremy seine alten Freunde von der Plastikfolie. Zuerst erschien Josef, dann Maria. Die Krippe, so erinnerte Jeremy sich, stand in Saul Haskins Scheune, zusammen mit dem Holzrahmen für den Stall.

      Er packte die übrigen Figuren aus. Da waren die beiden anderen Weisen. Der Engel. Ein Lamm. Ein Esel. Ein Hirte und auch ein Kamel, das ganz hinten gestanden hatte, kamen zum Vorschein.

      „Nun“, sagte Jeremy, während er zurücktrat, um die Figuren zu bewundern, „jetzt werden wir wohl einen Platz für euch finden müssen, wo ihr bis Weihnachten bleiben könnt.“

      „Und dann?“, fragte Walter.

      „Dann stellen wir sie auf dem Rasen vor der Kirche auf.“

      Nacheinander trugen sie die Figuren hinaus in den Flur.

      „Wo wollen Sie sie denn unterbringen, Pastor?“ Walters Blick wanderte über die Krippenfiguren. „Gibt es hier noch einen zusätzlichen Raum? Vielleicht einen Lagerraum, von dem ich nichts weiß?“ Er zuckte mit den Schultern. „Bald wird es hier vor Arbeitern wimmeln.“

      „Sie haben recht. Ich werde mich heute Nachmittag ein wenig umhören. Vielleicht finde ich ein paar Gemeindemitglieder, die unseren Freunden bis Weihnachten Asyl gewähren.“

      Walter, der sich sonst immer schnell verabschiedete, trat von einem Fuß auf den anderen.

      „Was überlegen Sie?“, fragte Jeremy.

      „Nun, ich wohne ja in dieser kleinen Wohnung drüben auf der Main Street. Sie ist wirklich klein, und ich kann auf keinen Fall alle nehmen, aber … ich könnte … ich meine, ich würde gern … Also, wenn Sie nichts dagegen haben, würde ich gern eine Figur mit nach Hause nehmen.“

      Verblüfft schaute Jeremy den Hausmeister an. Es erstaunte ihn, dass er eine der Krippenfiguren mit nach Hause nehmen wollte. Aber nach so vielen Jahren als Pastor sollte ihn eigentlich nichts mehr wundern.

      „Natürlich können Sie eine mitnehmen.“ Er wandte sich um und ließ den Blick über die Figuren schweifen. „Möchten Sie eine bestimmte?“

      „Also, wenn es Ihnen recht ist, würde ich gern Balthasar mitnehmen. Ich fand die Weisen schon immer …“ Er suchte nach dem richtigen Wort. „Nun, weise eben.“

      „Eine gute Wahl“, erwiderte der Pastor. „Ich kann mir kein besseres Zuhause für ihn vorstellen.“

      „Sind wir hier fertig? Dann nehme ich ihn gleich mit.“ Walter strahlte, als hätte er in der Lotterie gewonnen. Er legte dem Weisen den Arm um die Taille, hob ihn vorsichtig hoch und ging mit ihm davon, als wären sie alte Freunde.

      Fünf Minuten später verließ Pastor Higgins gerade den Lagerraum, als die Lindall-Schwestern den Flur entlangkamen.

      „Wir haben gerade Walter mit Balthasar gesehen“, erklärte Joy. „Er sagte, Sie suchen nach einem Zuhause für die Krippenfiguren. Wir würden auch gern einen Weisen mitnehmen.“

      „Für mehr haben wir leider keinen Platz“, wandte Grace ein.

      „Natürlich.“

      Die Schwestern tänzelten aufgeregt durch den Flur und begannen, den Refrain von Wir drei Könige zu singen. Jeremy stimmte mit ein, und kurz darauf verabschiedeten sich die Schwestern mit Melchior, dem zweiten Weisen, im Gefolge.

      Der Pastor atmete auf. Das würde vielleicht gar nicht so schwierig wie gedacht. Er würde die Figuren auf dem Rasen vor der Kirche aufstellen und die Gemeindemitglieder bitten, sich eine auszusuchen.

      Nacheinander trug er die Figuren nach draußen. Gleichzeitig überlegte er, wen er anrufen und bitten könnte, eine von ihnen bei sich aufzunehmen.

      Er ließ den Blick über das Krippenensemble schweifen.

      Irgendetwas störte ihn. Was war es nur? Die Figuren waren vollkommen intakt und unbeschädigt. Sie sahen wunderschön aus. Aber …

      Irgendetwas stimmte nicht.

      Und dann fiel es ihm schlagartig auf: Das Jesuskind fehlte!

      Er ging zurück in den Lagerraum


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