Fürchtet euch nicht. Betsy Duffey

Fürchtet euch nicht - Betsy  Duffey


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Und dann fingen sie an zu reden.

      Seine Gefühle waren wie der Fluss. Tiefe Unterströmungen zerrten an ihm. Oberflächlich schien alles in Ordnung zu sein, aber tief unten herrschte Dunkelheit.

      Während er den Rasenmäher zur Gartenhütte zurückschob, dachte er über den Hirten nach. Dieser einfache Mann aus Plastik hatte die Erinnerungen an seinen Bruder und das Krippenspiel zurückgebracht. Gute Erinnerungen. Ein warmes Gefühl durchströmte Buck.

      Er dachte an sich und seinen Bruder in dem großen, massiven Ruderboot, das sein Großvater immer an den Bootssteg des Santee Rivers angebunden hatte. Damit ruderten sie Tag für Tag hinaus, um Krabbenfallen auszulegen oder Barsche zu angeln. Seite an Seite saßen sie auf der verwitterten Bank und griffen nach den Rudern, die in den verrosteten Metallringen hingen, dann setzten sie das Boot in Bewegung.

      Ihre nackten Füße waren gegen das feuchte Holz auf den Boden des Bootes gedrückt. Mit aller Kraft kämpften sie gegen den Widerstand des Wassers an, während ihnen die Sonne auf ihre gebräunten Rücken schien.

      Diese Zeit erschien Buck heute unschuldig und sorgenfrei. Zwei Jungen an einem sonnigen Tag auf dem Wasser.

      Von klein auf waren sie zusammen rudern gegangen. Das Ziehen der Ruder einte sie, und sie ruderten im selben Rhythmus, beinahe so, als wären sie ein und dieselbe Person. Vier gebräunte Hände umklammerten die beiden Ruder. Vier dünne Ärmchen zogen mit vereinten Kräften. Zwei blonde Köpfe beugten sich gemeinsam hinunter und kamen wieder hoch. Zwei strahlende Gesichter mit Sommersprossen, die sich auf den vor ihnen liegenden Weg konzentrierten.

      Nacheinander überprüften sie die Krabbenfallen. Buck zog das Seil hoch, bis die Falle aus dem Wasser auftauchte. Bruno öffnete die Holzkiste hinten im Boot, und gemeinsam schüttelten sie die Krabben aus der Falle in die Kiste und warfen schnell den Deckel zu, damit die Scheren der Tiere sie nicht erwischten.

      Als Bruno nach der Highschool aufs College ging, entdeckte er das Rudern als Sportart für sich. Er trat der Rudermannschaft bei, und Buck lauschte mit Begeisterung den Geschichten, die Bruno ihm erzählte, wenn er übers Wochenende oder während der Semesterferien nach Hause kam. Er berichtete spannende Dinge von Ruderwettkämpfen und dem Wetteifern der Studenten.

      Aber irgendwie machten seine Geschichten Buck auch traurig. Bruno war weitergezogen und brauchte ihn nicht mehr.

      Bruno schien sein langes Gesicht zu bemerken.

      „Ich rudere jeden Morgen“, sagte er. „Ganz allein. Aber ich nehme immer den Zweier. Der vordere Platz bleibt leer“, tröstete er ihn. „Den habe ich für dich reserviert.“

      Buck lächelte. Mehr brauchte er nicht zu wissen.

      Während die Zeit verging und Buck jeden Morgen allein mit dem alten Ruderboot hinausfuhr, dachte er an Bruno, der allein in seinem Zweierboot ruderte und den vorderen Sitz für ihn reserviert hatte.

      Buck folgte Bruno schließlich aufs College, und wieder waren sie zwei Brüder, die dieses Mal zwar hintereinander im Boot saßen, aber dennoch eins waren im Rhythmus des Ruderns und in dem Willen, das Boot voranzutreiben.

      Der Hirte von Pastor Higgins’ Krippenfiguren war leicht. Buck trug ihn mühelos zu seinem Jeep und legte ihn in den Kofferraum, wobei der Kopf des Hirten aus der geöffneten Heckklappe ragte. Auf dem Weg durch die Stadt bemerkte Buck die Blicke, die ihm zugeworfen wurden, und er lächelte. Es war schön, Gesellschaft zu haben, auch wenn die Gesellschaft nur aus Plastik war.

      Er trug den Hirten in sein Zimmer und legte ihn auf das leere Bett. Brunos Bett. Nach dem Unfall seines Bruders hatte Buck keinen neuen Mitbewohner zugewiesen bekommen.

      Die Erinnerung an sein letztes Gespräch mit Bruno verfolgte ihn. Bruno hatte versucht, Buck aufzuwecken, weil er mit ihm rudern wollte, aber Buck war am Abend zuvor feiern gewesen und hatte sich das Kissen über den Kopf gezogen.

      „Steh auf, Bruderherz“, sagte Bruno, aber draußen es war noch dunkel, und Buck hatte keine Lust.

      „Nö“, stöhnte er und kniff die Augen zusammen.

      „Du verpasst was“, erklärte Bruno.

      Er probierte es noch ein letztes Mal und zog dann allein los.

      „Dann eben nicht“, sagte er, als er das Zimmer verließ.

      Es war das letzte Mal, dass Buck Bruno sah.

      Einige Zeit, nachdem Bruno hinausgegangen war, wurde Buck von einem lauten Donnerschlag geweckt und war erleichtert, dass er nicht mit seinem Bruder zum Rudern gegangen war. Der Gedanke, dass Bruno etwas passiert sein könnte, kam ihm nicht. Er war der Ältere, Stärkere.

      Aber es war etwas passiert. Zwei Stunden später stürmte einer seiner Kommilitonen in Bucks Zimmer. Mit vor Schreck geweiteten Augen starrte er ihn an.

      „Komm mit“, sagte er.

      „Was ist los?“

      „Bruno!“, sagte sein Kommilitone. Furcht ergriff Buck. Gemeinsam rannten sie hinaus auf den Parkplatz, wo ein Polizeiauto im prasselnden Regen stand.

      Später sagte man ihm, das Gewitter sei ganz plötzlich aufgezogen. Bruno war wie üblich frühmorgens rudern gegangen, und niemand hatte mit einem solchen Wetterumschwung gerechnet. Die Wolken hatten sich dunkel und bedrohlich zusammengeballt, und man vermutete, dass Bruno vom Blitz getroffen worden war.

      Sein Bruder hatte ihn zum zweiten Mal verlassen, war weitergezogen wie damals, als er aufs College ging. Aber dieses Mal gab es keine Besuche und keine Geschichten. Gar nichts.

      Wäre es anders ausgegangen, wenn sie zusammen gewesen wären?

      Der Zorn baute sich wieder in Buck auf. Doch er hatte mittlerweile gelernt, ihn im Zaum zu halten. Dr. Morgan hatte ihm geraten zu atmen, wenn er die Wut hochkommen spürte. Also atmete er tief ins Zwerchfell, wie sie es ihm gezeigt hatte.

      Wenn Buck an die bedrohlichen Wolken und den Blitz dachte, der seinen Bruder getroffen hatte, dann war er unglaublich böse auf Gott. Wie hatte er ihm seinen Bruder nehmen können?

      Bucks Zorn richtete sich aber nicht nur gegen Gott, sondern gegen alles und jeden. Seine Freunde gingen ihm aus dem Weg. Seine Mannschaftskameraden wollten nichts mehr mit ihm zu tun haben.

      Dr. Morgan hatte ihm geholfen, mit seinem Zorn umzugehen, und es war auch schon besser geworden, aber er verstand es immer noch nicht. Warum Bruno? Dr. Morgan meinte, es sei gut, wenn er darüber reden oder schreiben oder es irgendwie zum Ausdruck bringen würde. Aber Buck konnte nicht gut über seine Gefühle reden. In seinem Elternhaus hatte man ihm das nicht beigebracht.

      Das war der Zeitpunkt gewesen, als er angefangen hatte, für Pastor Higgins den Rasen zu mähen. Einer Kirche wollte er keinesfalls beitreten. So nah wollte er Gott nicht kommen. Gott hatte ihm seinen Bruder genommen. Aber Pastor Higgins mochte er.

      Wo war Bruno jetzt? Diese Frage beschäftigte ihn. Pastor Higgins hatte ihn einmal gefragt, was er denn glaube. Buck wusste es nicht mit Sicherheit, aber seiner Meinung nach war Bruno im Himmel.

      „Warum musste das passieren?“, fragte Buck den Hirten, der neben ihm saß, aber der Mann aus Plastik antwortete nicht.

      Er wollte gern wieder an Gott glauben, so wie früher, als Bruno noch am Leben gewesen war.

      Die Vorstellung, dass es einen Himmel gab, hatte etwas Tröstliches an sich. Buck hatte gelesen, im Himmel gebe es einen Fluss. So stellte er sich Bruno vor: Nicht in einem weißen Gewand und mit einer Harfe auf einer Wolke schwebend, sondern rudernd auf einem wunderschönen, glasklaren Fluss. Vielleicht ruderte sein Bruder wieder mit einem


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