Fürchtet euch nicht. Betsy Duffey

Fürchtet euch nicht - Betsy  Duffey


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Baby ganz deutlich vor sich. Klein und blass, kaum größer als ein richtiges Neugeborenes. Seine Hände waren ausgestreckt, die Handflächen nach oben gedreht, und es war in weiße Windeln gewickelt. Es konnte nicht aufrecht stehen wie die anderen Krippenfiguren. Vielleicht hatte jemand es eingepackt und in eine Kiste gelegt. Aber in welche? Er hatte doch alle Kisten durchgesehen und jede Ecke und jeden Winkel des Lagerraums abgesucht. Zumindest dachte er das.

      Aber da waren noch die Kisten, die sie am Tag zuvor an das Sozialkaufhaus weitergegeben hatten. Altes Geschirr und die Vorhänge aus dem Pfarrhaus, außerdem noch alte Chormappen und anderen Kleinkram. Könnte das Jesuskind in einer der Kisten gelegen haben, die sie weggegeben hatten? Du liebe Zeit!

      Pastor Higgins betrachtete die übrigen Figuren, die ihm jetzt sehr traurig vorkamen, als wüssten sie, dass die Hauptfigur in ihrem Stück fehlte.

      Sein Herzschlag beschleunigte sich.

      Wo war das Jesuskind nur? Es konnte doch nicht sein, dass der Pastor Jesus verloren hatte. Oder doch?

      „Wir werden ihn finden“, sagte er zu den anderen Figuren.

      Aber als er an die Kisten für das Sozialkaufhaus dachte, war er sich dessen nicht mehr so sicher.

      In der Zwischenzeit im Sozialkaufhaus …

      „Sieh nur, was wir hier haben.“ Sue Johnson hielt das Jesuskind in die Höhe.

      Die anderen Ehrenamtlichen, die die gespendeten Waren sortierten, hielten inne und bestaunten das Baby.

      „Wer gibt denn so etwas weg?“ Sue nahm die Plastikfigur in die Arme, als würde sie ein richtiges Baby halten.

      „Die Leute geben die unglaublichsten Dinge weg“, bemerkte Julius.

      „Und die Leute kaufen die unglaublichsten Dinge“, ergänzte Sue.

      „Aber“, fuhr Julius fort, „ich habe noch nie erlebt, dass jemand Jesus weggibt.“

      Er lachte.

      Sue war gerade dabei gewesen, die neuesten Kisten auszupacken, die sie gespendet bekommen hatten. Altes Geschirr und alte Vorhänge. Dinge, die häufig bei ihnen abgegeben wurden. Und in einer dieser Kisten hatte sie das Jesuskind gefunden.

      „Also dann: Hallo, Jesus“, sagte sie. Ihr Blick ruhte auf seinem sanften, freundlichen Gesicht.

      „Was mache ich jetzt mit dir?“

      Sie hielt ihn eine Weile im Arm.

      In welcher Abteilung soll ich Jesus unterbringen?, fragte sie sich.

      Beim Spielzeug?

      Nein, sie konnte ihn nicht zum Spielzeug räumen. Es erschien ihr nicht richtig, ihn zu den Puppen und den Teddybären zu legen.

      Haushaltwaren?

      Sie schüttelte den Kopf.

      Gemischtwaren?

      Okay. Sie ging in die Krimskrams-Abteilung und platzierte die Krippenfigur zwischen einer Lavalampe und einer Brotmaschine.

      Doch mit einem Mal fühlten sich ihre Arme seltsam leer an, und ihr Blick wanderte erneut zu dem Baby.

      Sie wollte es nicht zurücklassen.

      Seit Jahren hatte Sue nicht mehr an Jesus gedacht, aber als sie ihn jetzt anschaute, bohrte sich ein tiefer Schmerz in ihr Herz. Da war so eine nicht greifbare Sehnsucht in ihr. Wonach, das wusste sie nicht so genau.

      Vielleicht fehlte etwas in ihrem Leben.

      Vielleicht hatte dieses Baby, dieser Jesus ihr etwas zu sagen.

      „Aber was denn?“, fragte sie ihn.

      Er schaute sie unverwandt an, die Arme nach ihr ausgestreckt.

      Als sie Feierabend hatte, ließ Sue Jesus im Laden zurück, aber auf der Heimfahrt musste sie unentwegt an ihn denken.

      Ihr Weg führte sie an einer Kirche vorbei. Am Kirchengebäude hing ein Schild, das einlud, mittwochs zum Abendessen hereinzukommen. Heute war Mittwoch.

      Hunderte Male war sie an dieser Kirche vorbeigefahren, doch dieses Mal fuhr sie auf den Parkplatz und beobachtete die Leute, die in das Gebäude strömten.

      Vielleicht gab es hier ja doch etwas für sie. Sie stieg aus und ging Richtung Eingang.

      Kapitel 2

      Der Hirte

      In dieser Nacht bewachten draußen auf den Feldern vor Bethlehem einige Hirten ihre Herden.

      Lukas 2,8

      „Hallo, Buck!“ Pastor Higgins stand in der Tür und winkte dem jungen Mann zu, der gerade den Rasen vor der Kirche mähte.

      Buck winkte zurück. Die Sonne auf seinem Rücken tat ihm gut. Er erledigte gern die Gärtnerarbeiten rund um das Kirchengebäude. So kam er wenigstens mal raus aus seinem kleinen Zimmer im Wohnheim auf dem Collegecampus. Und es lenkte ihn von seinen negativen Gedanken ab. Die Arbeit auf dem Kirchengelände und das Rudern auf dem Fluss waren die beiden Dinge, die ihn antrieben. Dinge, die ihm halfen, nicht den Verstand zu verlieren.

      Der Lärm des Rasenmäher-Motors übertönte alle anderen Geräusche, und das ständige Vor und Zurück mit dem Rasenmäher half ihm dabei, ein wenig abzuschalten. Rasenmähen war ähnlich wie rudern auf dem Fluss. Buck mochte Dinge, bei denen man nicht allzu viel nachdenken musste.

      Als er heute früh am Morgen rudern gegangen war, war die Welt noch am Schlafen gewesen. Auch seine Muskeln mussten erst wach werden und sich an die Belastung gewöhnen, doch schon bald fand er seinen Rhythmus. Seine Füße waren in die Halterungen im Inneren des Bootes gepresst, seine Arme zogen die Ruder zurück und das Boot glitt vorwärts. An der Oberfläche wirkte das Wasser friedlich, doch Buck wusste, dass die Strömung darunter heimtückisch war, ähnlich wie die Emotionen im Inneren eines Menschen.

      Auch das Rasenmähen war eine friedliche Tätigkeit. Das gleichmäßige Schieben des Mähers quer durch den ganzen Garten und der Geruch des frisch geschnittenen Grases taten seiner aufgewühlten Seele gut.

      Erneut schaute er zu Pastor Higgins hinüber, der inmitten einer Gruppe von Plastikfiguren stand. Er hatte die Hände in die Hüfte gestemmt und schüttelte den Kopf. Vermutlich war er gestresst wegen der anstehenden Renovierungsarbeiten.

      Am Ende der Rasenfläche angekommen, wendete Buck den Rasenmäher und schob ihn ein paar Meter versetzt wieder zurück. Ein hellgrüner, ebenmäßiger Graspfad blieb zurück.

      Buck sog erneut den Duft des frisch gemähten Grases ein. Die warmen Sonnenstrahlen genoss er heute ganz besonders.

      Am Morgen auf dem Fluss war es recht kühl gewesen. Bereits um fünf Uhr war er zum Bootshaus gefahren. Er besaß einen Schlüssel und konnte das schmale Boot ohne Hilfe herausholen.

      Der Fluss war ganz ruhig. Das Wasser schlug nur sanfte Wellen, da so gut wie kein Wind herrschte. Die Morgensonne ging auf, und die vom Wasser zurückgeworfenen Strahlen blendeten ihn. Die beiden Enten, die ihn eine Weile begleitet hatten, gaben auf und flogen davon.

      Das Ruderboot schnitt so sauber durch das Wasser wie ein Messer. Die Ruder in seinen Händen fühlten sich gut an, und er zog und zog und zog. Wenn er morgens allein auf dem Fluss ruderte, war er mit sich im Reinen. Alles war gut.

      Er liebte jeden Meter dieses Flusses und kannte ihn gut. Die Weide nahe beim Ufer, auf der zwei Rotschimmel grasten, mochte er besonders gern. Jedes Mal, wenn er daran vorbeifuhr, erfreute er sich an der ländlich-friedvollen Atmosphäre.

      Buck zog und zog, bis er die Weide hinter sich gelassen hatte und zum angrenzenden Wald gelangte. Am Flussufer watschelte ein Murmeltier zum Wasser, tauchte seine Nase hinein und schüttelte sich das Wasser aus dem Fell.

      Er


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