Fürchtet euch nicht. Betsy Duffey
zurückbrachte, traf er auf Ken. „Du bist wirklich unglaublich!“, staunte der. „Ein wahrer Frühaufsteher.“
Ken konnte natürlich nicht wissen, dass Buck so gut wie nie richtig schlief. Er brauchte meist Stunden, um einzuschlafen. Und wenn er dann endlich schlief, kamen die Albträume, und er schreckte schwitzend, zitternd und manchmal sogar schreiend aus dem Schlaf hoch.
Da war es besser, so wenig wie möglich zu schlafen und morgens früh aufzustehen.
„Würdest du morgen mal einen der Jungs mitnehmen?“, fragte Ken. Auf der anderen Seite des Flusses fand gerade ein Rudercamp für Jungen im Teenageralter statt. Sie waren laut und ausgelassen, boxten und schubsten sich ständig. Ken hatte beim Training alle Hände voll zu tun.
„Nein, lieber nicht.“ Buck schüttelte den Kopf. Er mochte den leeren Platz vor sich.
Pastor Higgins winkte Buck zu sich, der mit seinem Rasenmäher sogleich Kurs auf ihn und die Krippenfiguren nahm.
„Soll ich die wegbringen?“
„Nein, Buck, wegen der Renovierung mussten wir den Lagerraum ausräumen. Einige Gemeindemitglieder haben sich bereit erklärt, eine Krippenfigur bis Weihnachten mit nach Hause zu nehmen.“ Er hielt kurz inne und fragte schließlich: „Könntest du auch eine von ihnen mitnehmen?“
Buck betrachtete die Figuren. Er war es nicht gewohnt, mit einbezogen zu werden. Er mochte es, allein zu sein. Das war sicherer. Aber er mochte auch Pastor Higgins.
„Ich weiß nicht“, erwiderte Buck. „Ich wohne immer noch im Wohnheim.“
„Kein Problem. Ich finde sicher jemand anderen.“
„Nein, nein“, ruderte Buck zurück, „ich möchte Ihnen helfen. Ich nehme ihn.“ Er deutete auf den jungen Hirten, der sich schwer auf seinen Hirtenstab stützte. In der freien Hand hielt er ein kleines Lamm.
Buck stellte sich vor, wie der Hirte in seinem winzigen Zimmer im Wohnheim stand. Es würde eng werden.
„Reservieren Sie ihn für mich. Wenn ich fertig bin, nehme ich ihn mit.“
Er hoffte nur, dass der Hirte in seinen Jeep passte.
„Vielen Dank!“ Pastor Higgins lächelte ihn an.
Buck lächelte zurück, so gut er konnte, und machte sich wieder an die Arbeit. Er zog an dem Seil und startete den Motor.
Auf der anderen Seite des Rasens stand der Hirte und schaute ihm zu.
Als Kinder hatten Buck und sein Bruder Bruno beim Krippenspiel in der Kirche mitgewirkt. Sie hatten zwei Hirten gespielt.
Wie stolz Buck gewesen war! Er trug den hellblauen Bademantel seiner Mutter, auf dem Kopf ein Geschirrtuch, das mit einem Lederschnürsenkel festgebunden war, und natürlich durfte auch ein typischer Hirtenstock nicht fehlen. So verkleidet warteten er und Bruno im hinteren Teil der Kirche auf ihren großen Auftritt.
Zuerst betraten Maria und Josef, die immer von den größeren Kindern gespielt wurden, die Bühne. Maria hielt eine in ein Tuch gewickelte Babypuppe im Arm.
Dann kam der zottelige Esel in seinem braunen Kostüm durch den Gang geschlendert. Danach drei Schafe, die von den Kindergartenkindern gespielt wurden. Sie trugen Kostüme, die mit Wattebäuschen besetzt waren, und Kopfbänder mit weiß-rosa Ohren.
Und schließlich hatten auch die Hirten ihren großen Auftritt.
Buck erinnerte sich noch, dass es immer mindestens zwei in ihrem Krippenspiel gegeben hatte. Sein Blick wanderte zu seinem Hirten, der zwischen den anderen Krippenfiguren stand. Er wirkte irgendwie einsam. Er brauchte einen zweiten Hirten, der ihm Gesellschaft leistete, so wie Bruno –
Buck zwang sich, nicht an seinen Bruder zu denken. Das tat er immer, wenn ihn schmerzliche Erinnerungen einzuholen drohten …
Buck konzentrierte sich wieder auf das Rasenmähen. Vor und zurück. Wenn er an den Figuren vorbeikam, schaute er zu seinem Hirten hinüber.
Für das Krippenspiel hatte ihre Sonntagsschullehrerin den Hirten die Gesichter mit Asche eingerieben und auch ihre Gewänder damit bestäubt, damit sie schmutzig wirkten, wie richtige Hirten eben. Im Vergleich zu den drei Weisen in ihren feinen Gewändern sahen sie schäbig und verlottert aus.
„Die Hirten waren unrein“, hatte ihre Lehrerin ihnen erklärt. „Sie durften die Stadt Bethlehem nicht einmal betreten.“
Was für eine Ehre und Überraschung musste es für diese abgezehrten und schmutzigen Hirten gewesen sein, als die Engel zu ihnen gekommen waren. Ausgerechnet zu ihnen!
Die Stimme des Erzählers der Weihnachtsgeschichte klang noch in seinem Kopf nach. In dieser Nacht bewachten draußen auf den Feldern vor Bethlehem einige Hirten ihre Herden.
Und dann waren sie durch den Gang gekommen, Buck und Bruno und die kleinen Schafe mit ihren Wattebauschkostümen, und es war irgendwie genau richtig gewesen. Bruno und er hatten nie in die Kirche gepasst. Aber die Rolle der Hirten beim Krippenspiel war absolut perfekt für sie gewesen.
Das alles war schon lange her, und seither war viel geschehen.
Dr. Morgan hatte Buck ermutigt, das Rudern beizubehalten. Sie meinte, das sei eine „therapeutische“ Maßnahme. Und Buck konnte ihr nur zustimmen. Für ihn bedeutete das Rudern Frieden, ein paar Stunden, in denen er seine bedrückenden Gedanken verdrängen und einfach nur sein konnte. Ein paar Stunden Erleichterung von dem Zorn, der immer wieder in ihm hochstieg.
Der Fluss war wie sein Leben. Äußerlich heiter und ruhig. Buck konnte viele Seminare gleichzeitig belegen, Vorlesungen und Prüfungen und Hausarbeiten mit Leichtigkeit schaffen. An der Oberfläche wirkte er gelassen, aber in seinem Inneren versteckten sich tückische Strömungen.
Niemand wusste um seine Nächte. Niemand wusste um den Stress, unter dem er stand. Niemand außer Dr. Morgan.
Der Trainer seiner Rudermannschaft hatte Buck gedrängt, Dr. Morgan aufzusuchen, nachdem es geschehen war. Bucks Wutausbruch hatte ihn hellhörig werden lassen.
Bei seinem ersten Besuch in Dr. Morgans Praxis war Buck sehr zornig gewesen. Zornig darüber, dass er zu einem Psychiater gehen sollte. Einen Seelenklempner aufsuchen, was sollte das schon bringen? Er war wütend auf die ganze Welt. Deshalb setzte er sich erst gar nicht hin, sondern lief wie ein Tier im Käfig in dem kleinen Sprechzimmer auf und ab.
„Möchten Sie etwas trinken?“
Er warf der Therapeutin einen finsteren Blick zu. „Ich bin doch nicht zu einer Teeparty hier!“, fuhr er sie an.
„Warum sind Sie denn hier?“, fragte sie ruhig.
Ihre Ruhe entfachte seinen Zorn erst recht.
„Sie wissen doch genau, warum ich hier bin“, antwortete er. „Mein Trainer hat mich hergeschickt.“
„Was meinen Sie, warum er Sie hergeschickt hat?“
Bucks Zorn wurde so groß, dass er ihr keine Antwort geben konnte. Er stürmte aus dem Sprechzimmer und knallte die Tür hinter sich zu. Er rannte die Treppen hinunter zum Parkplatz, wo er seinen Jeep geparkt hatte, setzte sich ans Steuer und legte den Kopf auf das Lenkrad.
Warum hatte er das gemacht? Warum hatte er die Tür hinter sich zugeschlagen und war dann abgehauen?
Er wollte nicht so empfinden. Er wollte nicht so handeln.
Er stieg die Treppe wieder hoch und klopfte an Dr. Morgans Tür. Sie öffnete ihm und blickte ihn freundlich an. Als wäre er nie weggelaufen.
„Warum sind Sie hier?“, fragte sie erneut.
Dieses