Warum ich das Lachen und Singen verlernte (Autobiografie). Beate Sander

Warum ich das Lachen und Singen verlernte (Autobiografie) - Beate Sander


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entwickelt, sollte sich nicht selbst beweihräuchern. Niemand drängte Mutti dazu, ihren Haushalt perfekt zu führen, allwöchentlich sämtliche Fenster zu putzen, die Betten neu zu beziehen, täglich die Böden zu fegen, zu bohnern und die Küche nass aufzuwischen und zu schrubben.

      Mutti hatte den Ehrgeiz, jedes Familienfest auf hohem Niveau auszurichten. Dabei begnügte sie sich nicht mit den Feierlichkeiten bei sich zu Hause. Gut, wenn ein solches Treiben befriedigt und das Selbstwertgefühl stärkt. Ein andauerndes Wehklagen widerspricht einem positiven Selbst- und Fremdbild. Ich ließ Mutti bei den Festlichkeiten für meine Kinder nie aktiv mitwirken, was die Spannungen verstärkte. Damit sie sich nicht einmischte, lud ich sie erst am Festtag ein.

      Ganz klar: Ich stellte als Gastgeberin meine Mutter nie zufrieden. Ihr Rollenverständnis bezüglich Mädchen und Junge, Frau und Mann deckte sich mit der üblichen Einstellung vor mehr als 70 Jahren: Jungen sind etwas Besseres und verdienen bevorzugte Behandlung. Sie brauchen im Haushalt nicht mitzuhelfen, bekommen größere Essensportionen, dürfen sich prügeln, müssen aber auch tapfer sein. Bloß keine wehleidigen Angsthasen, keine Heulsusen, Petzen und Jammerlappen, die sich an Mutters Schürzenzipfel ausweinen!

      Ein Alptraum mit Blickwinkel auf den eigenen Tod ist es, nach einem arbeitsamen, an Freuden, Sorgen, Ängsten und Leiden reichen Leben so menschenunwürdig enden zu müssen wie dies meiner Mutter widerfuhr. Ein solches Dahinscheiden wünsche ich selbst meinem Todfeind nicht. Wer mit 95 Jahren erst nach zehnjährigem Koma abberufen wird, verliert in diesem Jahrzehnt alles, was seine Persönlichkeit prägte: Schönheit, Anmut, Geisteskraft, die Fähigkeit, eigene Bedürfnisse, Empfindlichkeiten und Wünsche zu äußern. Ich bin überzeugt, dass meine Mutter, könnte sie selbst bestimmen, ganz anders für sich entschieden hätte als meine sie zu Hause pflegende jüngere Schwester.

      Bei aller Fürsorge ging es wohl letztlich um das Pflegegeld in Stufe III. Eine mobile Sterbeklinik mit wachsendem Zulauf in den Niederlanden ist die Reaktion auf die Ängste todkranker Menschen, die selbst bestimmen und der Gerätemedizin nicht länger hilflos ausgeliefert sein wollen.

      Vati glaubte an Gott als Allmacht, als ein höheres Wesen, das die Natur erschuf und durch die Schöpfung für gläubige Christen wahrnehmbar ist. Dies erfuhr ich in Gesprächen; und darauf deuten einige seiner Gedichte hin. Zu seinem Vorstellungsbild passten weder der Himmel als Gottes Ort, noch die Hölle als Verließ der Verdammnis: Keine holden, lächelnden Engel als Heerschar. Keine Teufel als grausame Widersacher und Gegenspieler. Keine gottverdammten armen Sünder, schmorend in der blutroten Feuerbrunst der Hölle. Kirchen und Religionsgemeinschaften brauchte Vati zum Wohlbefinden und zur Werteorientierung nicht. Ich empfinde ähnlich.

      Mutti glaubte an Gott gegenständlich und konkret. Für sie war die evangelische Kirche mit ihren Glaubensgrundsätzen wichtig. Sie ging zwar nicht übertrieben oft, aber zumindest an jedem kirchlichen Feiertag in die Kirche und bemühte sich sehr, uns Kinder zu gläubigen Christen zu erziehen. Bis zur Konfirmation waren Kindergottesdienste für uns verpflichtend. Tischgebete vor dem Mittagessen und abends beim Zubettgehen zählten zum eingeübten Brauchtum, an dem es nichts zu rütteln gab. Die Gebete stammten allesamt aus Vatis Feder. Ich weiß nicht, wo er sie aufschrieb. Sein wohl schönstes Mittagsgebet habe ich mir eingeprägt:

      „Zu Ehren, was der Acker trägt,

      was sich in Wald und Feldern regt.

      Was Gott mit Sonnenschein und Regen,

      mit Wärme, Licht und seinem Segen

      aufwachsen und gedeihen lässt.

      Wir falten die Hände und danken Gott,

      der uns beschert das tägliche Brot.“

      Etwa zwölf Monate vor Kriegsende, im Jahr 1944, als eine Bombe nicht nur unser schönes Eigenheim auseinander riss, trafen Sprengbomben auch das Ferninstitut und die Handelsschule meines Vaters im Rostocker Stadtzentrum.

      Nie werde ich vergessen, wie überall seine Fernbriefe, gebunden oder als Einzelblätter, durch die Straßen und Fußgängerwege flatterten, darunter die vielen mit einem Segelschiff-Dreimaster als Markenzeichen und Logo gestalteten Titelseiten. Diese Bilder als zementiertes Symbol des Kriegsschreckens brannten sich in mein Gedächtnis ein. Vatis stolzes Segelschiff auf den Weltmeeren – plötzlich verschmutzt, zertreten und vernichtet auf Rostocks Straßen und Fußwegen!

      Als nach meinem schweren Schlaganfall der Tod an die Tür klopfte, richtete sich überlebensgroß mein neues Buch „Nachhaltig investieren“ vor mir auf: stolze Windräder auf dem Meer und zu Lande, Solaranlagen auf den Dächern und Feldern.

      Im Zuge der Entnazifizierung musste sich Vati als Feldarbeiter verdingen. Wir wurden enteignet; und unsere Sparbücher verloren bei der Währungsreform ihren Wert.

      Wir waren von einem Tag zum anderen keine reiche Unternehmerfamilie mehr. Irgendwann floh Vati nach Westberlin und hoffte, dort finanziell wieder auf die Beine zu kommen und seinem geliebten Ferninstitut neues Leben einzuhauchen. So ganz ist ihm dies nicht gelungen. Ob Berlin oder Würzburg: selten schwarze, eher rote oder gar tiefrote Zahlen. Unterkriegen ließ er sich jedoch nie.

      In den ersten Kriegsjahren lief Vatis Ferninstitut ausgezeichnet, ohne ihn deshalb als „Kriegsgewinnler“ zu beschimpfen. Viele eingezogene Soldaten nahmen am Fernunterricht in Bilanzbuchhaltung, Betriebs- und Volkswirtschaftslehre, Steuerrecht, Kaufmännischer Schriftverkehr und „Gutes Deutsch“ teil. Dies geschah in der von Zuversicht geprägten Annahme, der Krieg wäre schnell vorbei. Ein erfolgreiches Fernstudium sollte nach dem „Endsieg“ die Rückkehr in ein normales Leben und den beruflichen Start erleichtern. Diese Ziele waren nicht verwerflich. Kurz vor dem Zusammenbruch 1944 und ab 1945 ging gar nichts mehr. In den ersten Nachkriegsjahren hatten die Menschen andere Sorgen, als Wirtschaftswissenschaften zu studieren und sich in Zahlenreihen zu vertiefen.

      Die Bedürfnispyramide in der Nachkriegszeit lautete:

      1. Welle: Essen und Trinken,

      2. Welle: Wohnung und Kleidung,

      3. Welle: Freizeit und Reisen,

      4. Welle: Sicherheit, Bildung und Selbstverwirklichung.

      So startete mein Vater in Westberlin einen neuen Anlauf – mit mäßigem Erfolg: die meiste Zeit mehr Verlust als Gewinn. Es wäre besser gewesen, sich anfangs mit einem bescheidenen äußeren Rahmen zu begnügen. Aber das entsprach nicht Vatis Wesensart. So gut dies gemeint war: Musste er für Renate und mich einen teuren Konzertflügel mieten? Hätte zum Üben nicht ein einfaches Klavier genügt?

      Sein Lebensstil zeigt gewisse Parallelen auf zum miserabel wirtschaftenden, seit Jahrzehnten über seine Verhältnisse lebenden hochverschuldeten Griechenland. Ein Staat, der ohne milliardenschwere Rettungsschirme und Schuldenschnitt der Pleite nicht entrinnen dürfte. Wenn Vati schon das eine oder andere Liebesabenteuer pflegte: Musste es unbedingt allmonatlich die Frankfurter Edelhure Rosemarie Nitribitt sein, deren Leben verfilmt wurde? Billig war sie nicht zu haben.

      Vati versuchte, seinen Kontostand aufzubessern mit überdurchschnittlich gut bezahlten pornografischen Beiträgen. Er schrieb aber auch seriöse Artikel für eine Wochenzeitschrift.

      Als ich dem WINKLERS VERLAG in Darmstadt – geführt von den Zwillingsbrüdern Hans und Heinz Grimm sowie Vetter Rüdiger Grimm – mein erstes Fachbuch anbot, hieß es: „Wenn Sie so genial und kreativ sind wie Ihr Vater, heißen wir Sie als blutjunge Autorin herzlich willkommen. Sind Sie so unzuverlässig wie Dr. Jaenicke, dann zum Teufel mit Ihnen! Dann wird dies Ihr erstes und letztes Buch bei uns sein.“ Ich hielt jeden Termin überpünktlich ein und schrieb etliche Bücher für den WINKLERS VERLAG – eine ausfüllende und harmonische Beziehung bis zur Übernahme durch den Braunschweiger Großkonzern WESTERMANN.


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