Warum ich das Lachen und Singen verlernte (Autobiografie). Beate Sander

Warum ich das Lachen und Singen verlernte (Autobiografie) - Beate Sander


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aus Rostock zu fliehen. Ich trenne mich von meinem Wunschtraum, Pianistin zu werden.

      Als eine Art Schatz verwahre ich in meinem Erinnerungskasten ein öffentliches Klavierkonzert, für dessen Finale ich mich qualifizierte. Eine Bach-Fuge. Für meine modebewusste Mutter gab es nichts Wichtigeres auf der Welt, als mich in einem hübschen Kleid herauszuputzen. Jahre später darf ich Ludwig van Beethovens schwierige, zu seinen bekanntesten Werken zählende F-Moll-Klaviersonate „Appassionata“ vortragen. Als ich auf die Pedale trete, bemerke ich mit Schrecken, dass ich unterschiedliche Schuhe anhabe. Wie peinlich!

      Ich denke an meine zurückgelassene Kinderliebe Peter Wunderwald in Rostock, die einzige ganz große Liebe in meinem Leben. Auch mit Hockey ist es nun vorbei. Wir brachten es als Straßenteam bis zur DDR-Jugendmeisterschaft und waren bei den Ostblock-Weltfestspielen erfolgreich.

      In Berlin bin ich unglücklich und vereinsame. Ich bin der Sündenbock meiner Mutter und meines Bruders, perfekt leider nur im Gartenbau und im Klavierspiel. Im Nachkriegsberlin mit seinen Bombenteppichen kann ich nicht mehr wie in Rostock hier und da die Rolle der lieben, fleißigen und begabten Tochter spielen, die bei Besuchen von Freunden und Geschäftspartnern mit Pianokunst beeindruckt. In der Hauptstadt im 6. Stock eines Hochhauses am Fürstenplatz in Charlottenburg gibt es keinen Garten, mit dessen geernteten Obst und Gemüse ich meine Defizite ausgleichen und Pluspunkte sammeln kann. Im Haushalt bin ich der Tollpatsch, „Schussel“ und „Steifbock“ beschimpft, der fast alles falsch macht und die Hausarbeit hasst, aber gern und gut kocht. Diese Einstellung hat sich bis heute nicht geändert. Ich habe jedoch gelernt, auch das verlässlich zu tun, was keinen Spaß macht, vielleicht sogar Abscheu erregt.

      Ich entspreche nicht im Geringsten dem Bild meiner Mutter, interessiere mich nicht für Mode, Gesellschaftstanz, Königinnen, Prinzessinnen und Filmstars. Eher verhalte ich mich wie ein Junge, boxe, rauf mich, spiele heimlich Fußball und eifere meinem jüngeren Bruder Johann nach, der so gut wie alles darf. Es ist schwierig, sich als drittes Mädchen in der Geschwisterreihe zu behaupten, wenn schon 14 Monate später der ersehnte und verwöhnte Stammhalter geboren wird.

      Meinen Vater mit Doktortitel und zwei Diplomen bewundere und vergöttere ich als Hobbygärtner, Unternehmer und Lehrer. Als ich mit 15 Jahren zufällig entdecke, dass ihn Pornografie nicht nur reizt und stimuliert, sondern er die Texte selbst verfasst und mit ekelhaften Zeichnungen illustriert, rede ich außer Belanglosigkeiten im Alltag nicht mehr mit ihm. Ich fühle mich innerlich leer, meines familiären Vorbilds beraubt.

      Als Jugendliche fühle ich mich wegen anderer Vorlieben einsam, habe keine beste Freundin, bin sexuell verklemmt. Ich versuche aber trotz schlecht gemischter Karten, es beruflich zu etwas zu bringen, mag auch das Abitur als Türöffner fehlen. Begabtenprüfungen öffnen das Karrieretor einen Spalt weit. Lachen und Singen kann ich schon lange nicht mehr. Die Leichtigkeit des Seins kam mir abhanden. Was ohne Elternhilfe beruflich geht, schaffe ich. Daneben träume ich von einer Familie mit Kindern. Die Wirklichkeit sieht so aus: Heirat und Mutterschaft, zwei gesunde Kinder, für deren Bildung ich alles tue. Tochter und Sohn sind Akademiker und gute Eltern.

      Als älterer Mensch erlebe ich neue, spannende Herausforderungen, bin auch nach der Pensionierung erfolgreich. Aber ich vernachlässige meine Großelternrolle.

      In Rückblenden zeige ich das Kriegs- und Nachkriegsgeschehen auf. Ich bin mir bewusst, dass sich über einen Zeitraum von 75 Jahren manches verklärt oder verdüstert. Eigene Erlebnisse und Träume können sich miteinander vermischt haben, Wirklichkeit und Romanhaftes überzeichnet, ineinander verwoben und verschmolzen sein zu neuen Eindrücken. Oft habe ich mich in eine Fantasiewelt geflüchtet.

      Dass ich noch lebe, kommt einem Wunder gleich. Ein schwerer Schlaganfall vor zwei Jahren, gewöhnlich tödlich verlaufend, ansonsten zur Schwerstbehinderung führend, mahnt: „Der nächste Tag kann dein letzter sein. Umgekehrt nutze die Chance, noch etwas zu schaffen, etwas Bleibendes und Ermutigendes zu hinterlassen.“

      Liebe Leserinnen und Leser: Mein Leben war und ist ein ständiger Kampf gegen Bürokratie und Vorurteile, die ungeprüft als Wahrheiten und Weisheiten übernommen werden und die eigene Lebensgeschichte mit Einstellungen, Grundhaltungen und Handlungen prägen.

      Ich möchte Sie ermutigen, zumindest hier und da gegen den Strom zu schwimmen, auch später noch beschwerliche, steinige Wege zu gehen, als Totschläger der Langeweile entdeckerfreudig und wissbegierig zu bleiben und sich etwas zuzutrauen. Das mag anstrengend sein, ist aber spannend und sinnerfüllend. Liebe Leserinnen und Leser, träumen Sie nicht nur vom Ruhestand, sondern erleben Sie wie ich den Unruhestand mit möglichst nicht endenden Herausforderungen.

      Viel Lesefreude und Mut wünsche Ihnen die Autorin!

      Beate Sander, Ulm, im Frühjahr 2012

      Die Tagebucheinträge meiner Mutter als Grundlage für diesen Rückblick

      Vor 75 Jahren war für meine Eltern während der Schwangerschaft noch nicht zu erfahren: Würde ich der ersehnte Junge oder wieder nur ein Mädchen sein? Zwei Töchter nacheinander verstärkten den bislang unerfüllten Wunsch nach einem Stammhalter massiv. Beim dritten Male müsste es doch endlich klappen. Joachim sollte ich heißen wie mein Vater, ein früher üblicher, gern gepflegter Brauch. Ein drittes Mädchen war nicht eingeplant – schon gar nicht väterlicherseits.

      So kam der ersehnte Johann-Joachim erst zwei Jahre später auf die Welt. Als drittes Mädchen in dieser Geschwisterfolge nahm ich eine schwierige Rolle ein. Ich konnte sie nie richtig spielen.

      Mein Vater – für Mutti war er unser Pappi, wir Kinder nannten ihn Vati, Freunde sprachen ihn mit Arzi an – wählte mit seinem Sinn für Humor und als Ausdruck künftiger Hoffnung für mich den Namen Beate, die Glückliche. Es gibt viele Mädchen und Frauen, für die dieser schöne, freudige Erwartungen weckende Name besser passen würde.

      Die Fassade unseres schmucken Eigenheims, eine Villa in der gepflegten Rostocker Gartensiedlung Georgienweg, stattete Vati kunstvoll mit einem großen Holzschild „Drei-Mädel-Haus“ aus. Darin spiegelte sich etwas Ironie und leichter Spott gegenüber Mutti wider. Nach damaliger Expertenmeinung war die Frau an dem traurigen Zustand schuld, bislang nur Mädchen zu gebären. Wir Kinder nannten sie Mutti, für gute Bekannte war sie Muzi. Sehr gern ließ sie sich mit Frau Dr. Jaenicke anreden. Diese Erhöhung durch akademische Würden entsprach nicht den Tatsachen, hatte sie doch weder studiert noch promoviert.

      Als dem Leben seine guten Seiten abgewinnender Optimist, der – wie er selbst sagte – beim Schweizer Käse nicht die großen Löcher, sondern den schmackhaften Käse wahrnahm, ließ sich Vati als Stehaufmännchen nie unterkriegen. Er dichtete anlässlich meiner Geburt im Dezember 1937:

      „Christrosen blühen! Weihnachtszeit!

      Friede auf Erden weit und breit.

      Glocken läuten! Christ ist erstanden!

      Zu Weihnachten in der Krippe fanden

      wir unseres drittes Töchterlein.

      Drum lasst uns froh und glücklich sein.“

      Mutti vermerkt in ihrem Tagebuch, dass ich Joachim heißen sollte. Die Enttäuschung, dass ich nicht der ersehnte Stammhalter, sondern schon die dritte Tochter hintereinander war, muss riesengroß gewesen sein. Ich spürte Muttis Ablehnung. Platz für Liebe fehlte. Den Frust überdeckte nur eine gewisse Dankbarkeit, ein gesundes, kräftiges Kind geboren zu haben.

      Vati, ein kreativer, auffallend liebenswürdiger Mensch von mittelgroßer Statur – der Ausdruck „untersetzt“ ist passend – hatte Sinn für Humor. Seine Fäuste dienten bei Streitigkeiten nie als Waffe. Mutti, eine wunderschöne blonde Frau, kam dem Adolf-Hitler-Mutter-Ideal nahe. Sie wurde mit dem Mutterkreuz ausgezeichnet und war offensichtlich stolz darauf

      Ich spürte und erlebte am Rande mit, dass Mutti im Gegensatz zum kritisch denkenden Vati den Führer verehrte, anhimmelte und bis kurz vor dem Zusammenbruch bewunderte. Erst 1944/45 änderte sich ihre Einstellung


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