Warum ich das Lachen und Singen verlernte (Autobiografie). Beate Sander

Warum ich das Lachen und Singen verlernte (Autobiografie) - Beate Sander


Скачать книгу
1940 „auf Probe“ mittags am großen ovalen Esstisch in den Familienkreis aufgenommen. Wie demütigend, bislang allein am Katzentisch essen zu müssen. Ich nerve schon frühmorgens und entwickle mich zum Störenfried, indem ich im Haus herumrenne, die Türen zuschlage, während meine Mutter gern länger schlafen will. Vati ist Frühaufsteher wie ich.

      Noch ist die Ehe meiner Eltern intakt, später eine von mütterlichem Hass geprägte und in Scheidung endende Beziehungskatastrophe. Am Familientisch bin ich ganz brav, gehe geschickt mit Schieber und Löffel um, passe auf, dass ich nicht aufs Tischtuch kleckere. Ungefragt rede ich kein Wort und schon gar nicht dazwischen. Ich will nie wieder an den „Katzentisch“ verbannt werden und nehme die Ankündigung „auf Probe“ ernst. Welch’ Zurücksetzung und nicht verwundene Pein, über ein Jahr lang jeden Tag mitzuerleben, dass mein jüngerer Bruder Johann schon längst am großen Familientisch mitessen darf! Er lässt mich spöttelnd seine Verachtung spüren – erste Anzeichen einer Großmannssucht.

      Der Name „Katzentisch“ mag mitverantwortlich dafür sein, dass ich nie eine Katze haben wollte. Immer verband ich mit diesem Tiernamen den verhassten Tisch. Ich träumte davon, selbst Gastgeberin zu sein und Mutti dort zu platzieren.

      Nachdem ich als Lehrerin viele Jahre lang Erziehungskunde unterrichtete, mangelte es mir nie an anschaulichen Beispielen, wie man mit schwierigen Kindern besser nicht umgehen sollte. Keineswegs wollte ich solche Erziehungsfehler bei Elke und Uwe machen. Drum habe ich mein eigenes Verhalten fortlaufend kritisch hinterfragt.

      Bei Elke beobachtete ich kurzzeitig ähnliche Entwicklungsstörungen in Richtung „Hospitalismus“ nach ihrem Krankenhausaufenthalt mit eineinhalb Jahren. Damals – ich komme auf diesen gravierende Veränderungen im Klinikbetrieb auslösenden Vorfall noch zurück – wurde mir der tägliche Besuch ausgeredet. Welch’ grobe Fehleinschätzung seitens des Krankenpflegepersonals!

      2. Die Wirren des Krieges

      Fehleinschätzung und Verdrängung des unermesslichen Leids so vieler Menschen

       „Der Krieg begann im letzten Jahr, 1939. Obwohl er nun schon ein Dreivierteljahr im Gange ist und gerade in diesen Tagen der Entscheidungskampf im Westen begonnen hat. Es geht um alles! Auch um eure Zukunft!“

      So lautet ein Tagebucheintrag meiner Mutter. Danach sind einige Seiten herausgeschnitten. Ich vermute, dies waren Aufschriebe über die Verleihung des „Mutter-Kreuzes“ und die anfängliche Verehrung für den Führer Adolf Hitler. Schön, jung, blond, viele Kinder. Sie entsprach dem Führerideal.

      Vati beurteilte die Lage kritisch und war das krasse Gegenstück von einem Nazi. Er äußerte zwar öffentlich keine Missbilligung. Das konnte er sich als Unternehmer – Ferninstitut und Handelsschule – nicht leisten. Aber er trat nie in die Partei ein und behandelte die Kriegsgefangenen, die bei uns eine Weile auf dem Acker arbeiteten, so menschenfreundlich, dass es mir auffiel. Die Leute bekamen immer genug zu essen. Nach den fehlenden Seiten folgen einige Einträge von Vati, die aber vergilbt sind. Danach ist Mutti erneut an der Reihe. Sie betont, ich sei ein eigenartiges Kind sei, das kaum sprechen, aber einiges verstehen und überlegt handeln würde.

      Anfangs löste der Zweite Weltkrieg noch keine großen Ängste in der Bevölkerung aus, vorausgesetzt, man zählte nicht zu den erklärten Feindbildern und war kein Jude, den Hauptopfern des eskalierenden Rassenwahns. Die Olympiade 1936 in Berlin sorgte für weltweites Aufsehen. Adolf Hitlers Macht wurde gestärkt – eingebettet in imposante monumentale Bauwerke, die nicht jedem gefielen, Gefühle an Größenwahn aufkommen ließen, jedoch allgemein beeindruckten.

      Verantwortlich war Hitlers „Chefarchitekt“ Albert Speer, 1937 zum Generalbauinspektor für die Reichshauptstadt Berlin ernannt und ab 1942 zum Reichsminister für Bewaffnung und Munition befördert. Albert Speer verstand es geschickt, sich nach Kriegsende reuevoll als Angehöriger der seltenen Gattung „guter Nazi“ darzustellen. So entging er der Hinrichtung beim Nürnberger Kriegsverbrecherprozess. Speer wurde im Oktober 1946 zu einer 20-jährigen Haftstrafe verurteilt. Hinter Gefängnismauern schrieb er ein Buch, um sich zu rechtfertigen und zielstrebig an seiner neuen Karriere zu basteln.

      In den ersten Kriegsjahren 1939/1940 rechnete die Zivilbevölkerung mit einem raschen Sieg. Ein Weltkrieg mit der bedingungslosen Kapitulation stand nicht auf der Agenda. Noch schockierten die Menschen in der Heimat keine ausgelöschten Stadtkerne und die nicht enden wollenden Flüchtlingskolonnen. Noch fehlten die kilometerlangen Bombenteppiche, wie ich sie selbst Anfang der 1950er-Jahre in Berlin-Charlottenburg mit dem Blick aus dem Fenster direkt neben dem Fürstenplatz sah. Hier lebten wir eine Weile. Mir läuft es kalt über den Rücken, wenn ich mir vorstelle, wie viele Menschen dort unter zusammenbrechenden Gebäuden umkamen oder verstümmelt überlebten.

      Ich sinne darüber nach: Sind die Zerstörungen in Berlin so gewaltig, dass selbst sieben Jahre nach Kriegsende längst nicht alles wieder aufgebaut werden kann? Hinter diesen Ruinen, Trümmern und Geröll sehe ich die hässliche Fratze des mörderischen Krieges, wie ein Moloch alles verschlingend, Mensch und Tier, jung und alt. Wie oft habe ich mir die Bilanz dieses Kriegsgeschehens vergegenwärtigt und versucht, das Zahlenmaterial mit schrecklichen Bildern zu verdeutlichen und aufzuarbeiten: Millionen toter und verletzter, entstellter, ihrer Gliedmaßen beraubter Menschen! Bei Kriegsbeginn sah die Vorstellung völlig anders aus. Ruhm, Ehre, glorreicher Endsieg! Mich erinnert dies an einen Krebstumor, der anfangs unbemerkt wächst und nicht schmerzt, um danach seine todbringenden Metastasen im gesamten Organismus auszustreuen. Jetzt ist der Zeitpunkt verpasst, erfolgreich zu operieren.

      Als sich der Zusammenbruch 1943/1944 abzeichnet, ist es zu spät, die wuchernde Krebsgeschwulst Nationalsozialismus zu vernichten und den nicht mehr zurechnungsfähigen Adolf Hitler von seinem Wahnwitz abzubringen. Mehrere erfolglose Attentatversuche unterstreichen dies.

      Meine Eltern behaupteten, von der Judenverfolgung nichts gewusst zu haben – gewiss eine Ausrede. Sie haben sich herausgehalten und selbst nie aktiv mitgemacht, aber alles, was diese Grausamkeiten betraf, verdrängt. Gesellschaftsspiele mit Werbekampagnen und Titeln wie „JUDEN RAUS“ müssten doch die Zivilbevölkerung wachgerüttelt haben: „Es spielt sich unfassbar Schlimmes ab. Die Schikanen nehmen stetig zu!“ Als Schulkind spielte ich im Gedanken „NAZI raus“! Als Erwachsene denke ich mir ein „Börsen-Monopoly“ aus.

      Die Leute aus der Nachbarschaft, die gewöhnlich alles beobachten und darüber tratschen, mussten doch merken, wenn aus ihrer Siedlung jüdische Mitbürger plötzlich verschwanden. Wieso fiel nicht auf, dass Geschäftsräume, Türen und Fenster von Juden verrammelt wurden oder sich fremde Besitzer dort niederließen?

      Musste nicht jedermann hellhörig werden, wenn jüdische Mitbürger den auf ihrer Kleidung aufgenähten gelben Davidsstern mit der Inschrift „Jude“ trugen? Konnte es länger verborgen bleiben, wenn rund 5,6 Millionen Juden durch Vergasen, Erschießen, Verhungern, Injektionen und medizinische Versuche Opfer des Hitlerschen Rassenwahns wurden? Schätzungsweise 2,7 Millionen Menschen kamen allein in den Vernichtungslagern um. Die ersten Massendeportationen setzten bereits im Jahr 1939 ein. Da war ich noch keine zwei Jahre alt, zu jung, um Politik wahrzunehmen und zu verstehen.

      Heute, 70 Jahre später, befriedigt es mich, dass der Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki, selbst Überlebender des Warschauer Ghettos und einer der letzten Zeitzeugen, am 27. Januar 2012 im Bundestag in einer bewegenden Geschichtsstunde die Gedenkrede zum Jahrestag der Befreiung des KZ Auschwitz hielt.

      Freilich gab es noch nicht den sekundenschnellen weltweiten Datenfluss und die überbordenden Aktivitäten einer sich zum Moloch aufplusternden und vor Intimitäten nicht zurückschreckenden Medienindustrie. Die elektronische Datenverarbeitung und das Internet waren noch nicht geboren. Die Technologie rund um das Kriegsgeschehen steckte in den Kinderschuhen.

      Zurück zum Tagebuch: „Bum-Bum“, so nannte ich den Fliegeralarm, verhasst schon wegen des Lärms und des plötzlichen nächtlichen Herausreißens aus dem Schlaf. Sobald die Knallerei begann – nur ein paar hundert Meter von unserem Haus entfernt arbeitete die Flakabwehr – presste ich beide Hände vors Gesicht.


Скачать книгу