Warum ich das Lachen und Singen verlernte (Autobiografie). Beate Sander

Warum ich das Lachen und Singen verlernte (Autobiografie) - Beate Sander


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mit Betten zum Weiterschlafen – in was für Räumen wohl viele Menschen die Zeit verbringen müssen.“

      Im eigenen Luftschutzkeller, den Vati klug vorausschauend, vielleicht auch von bösen Vorahnungen getrieben, zusammen mit dem darüber liegenden Wintergarten gerade noch rechtzeitig bauen ließ, überlebte unsere Familie dieses Inferno 1944 unverletzt. Ein gerade abgeschossener feindlicher Flieger warf vor dem Absturz noch all seine Bomben ab und landete einen Volltreffer auf unsere Immobilie. Das Drei-Mädel-Haus zerbarst mittendurch. Nur der Wintergarten mit unserem Luftschutzkeller hielt der explodierenden Sprengbombe und den Druckwellen stand.

      Weiter geht es im Tagebuch:„Du protestierst oft so energisch, wenn wieder mal Alarm ist, mit deinen Worten Bum-Bum. Wenn doch recht bald der Krieg zu Ende wäre. Wir entbehren ja noch nichts, haben keine Not und Sorgen. Pappi hält sie dank seines Fleißes von uns fern, und der Staat tut alles, was er kann, und zum Klagen ist kein Anlass. Aber es gibt täglich neues Leid in so vielen Familien. Der Feind wirft seine Bomben unter die Zivilbevölkerung der Großstädte.“

      Schätzungsweise forderte der Zweite Weltkriegs bis zu 80 Millionen Kriegstote und 50 bis 60 Millionen durch direkte Kriegseinwirkung getötete Menschen. Weltweit verloren wohl rund 110 Millionen Menschen durch Waffengewalt ihr Leben. Genaue Zahlen fehlen. Die einzelnen Angaben weichen stark voneinander ab.

      Im Januar 1941, ich bin nun drei Jahre alt, beendet meine Mutter ihre Aufzeichnungen. Sie vermerkt, dass ich jetzt im Satzzusammenhang spreche. Die letzte Seite ihres Tagebuchs gebe ich ungekürzt wieder:

      „Nun gibt es aber für deinen Eigensinn nicht mehr immer die Entschuldigung: ‚Sie ist noch zu dumm!’ Du nennst dich zwar selbst ‚gute Ati’, aber das bist du nicht. Mit ‚Nati’ (Renate) verstehst du dich ja recht gut, aber mit ‚Kika’ (Christa) gibt es täglich Zusammenstöße. An Pappis Geburtstag sagst du mit einem Lichtlein und Blumen im Händchen: ‚Viel Glück, mein Pappi!’ Es ist wie mit allem bisher: Du lässt dir für alles wirklich Zeit, aber dann kommt alles, und unsere Sorge wandelt sich zur Freude.“

      Ich bin ein Kriegskind, das in unruhigen Nächten auch heute noch von Fliegeralarm, einschlagenden Bomben, Flucht, Folter und von den in den KZs vergasten Menschen träumt und schweißgebadet aufwacht. Wie oft stürzt bei diesen Heimsuchungen unsere Villa, mein Zuhause ein! Der ätzende Brandgeruch riecht nach millionenfachem Mord. Hungrige Ratten fallen über mich her; ich kann ihnen nicht entrinnen.

      Aber ich träume auch von einer Leiter, die zum Himmel führt, und die ich mühsam Stufe für Stufe erklimme, um ganz nach oben zu gelangen.

      Ich stamme aus einer einst wohlhabenden Familie – heute Besserverdiener genannt. Im Zuge der Kriegswirren verarmten meine Eltern und brauchten jahrzehntelang meine finanzielle Hilfe, sobald ich als verbeamtete Lehrerin Geld verdiente.

      Mein Vater, Dr. Joachim Jaenicke, geschmückt mit einem Doktortitel ohne Plagiat und zwei Diplomen in Politik, Volkswirtschafts- und Betriebswirtschaftslehre, war in Rostock ein erfolgreicher Unternehmer mit Ferninstitut und privater Handelsschule. Dieses Anwesen lag mitten im Zentrum Rostocks nahe dem Marktplatz. Wir wohnten etwas außerhalb am Stadtrand in einer schmucken Gartensiedlung, umgeben von einem größeren Waldgebiet. Hier sammelte ich Pilze, Beeren und Bucheckern und träumte mit meinem Freund Peter über unsere gemeinsame Zukunft – er als Förster – ich als Pianistin.

      Über die Familie väterlicherseits weiß ich wenig. Vati sprach nur ungern darüber und wich meinen Fragen geschickt aus. Vatis Mutter starb in jungen Jahren an Leukämie. Dieser heimtückische, damals immer unheilbare Blutkrebs raffte auch seine Zwillingsschwester im Alter von zehn Jahren hinweg. Ich befürchtete noch als Erwachsene, dass meinen Geschwistern, Kindern, Enkeln oder mir selbst ein ähnliches Schicksal durch vererbte Gene drohen würde. Diese Befürchtung bestätigte sich nicht. Es dauerte lange, bis ich die Angst überwand.

      Mein Opa väterlicherseits, ein Apotheker, verstarb ebenfalls früh, woran, weiß ich nicht. Mein Urgroßvater war ein reicher Gutsbesitzer. In unserem Esszimmer hing ein großes Ölgemälde mit imposantem Blattgoldrahmen. Es zeigt ihn als einen von Gesundheit strotzenden, erhaben wirkenden Titan, der in stolzer Pose auf seine stattlichen Ländereien, sein Gestüt und die ihn umwogenden Kornfelder blickt. Den Apotheker, meinen unbekannten Opa, stelle ich mir als schmächtigen, blassen, stillen, unauffälligen Mann mit verkniffenen Mundwinkeln vor – im akkurat geschnittenen weißen Medizinerkittel geheimnisvolle Rezepturen anrührend. Suchte er die Zauberformel, um die seine Familie heimsuchende Leukämie zu bekämpfen?

      Vati stammt aus dem thüringischen Jena. Warum er nach Rostock zog und hier seine berufliche Existenz aufbaute, weiß ich nicht. Er war nie ein Nazi, behandelte die bei ihm zeitweilig arbeitenden Kriegsgefangenen glücklicherweise menschenfreundlich. Zweifellos profitierte er in den ersten Kriegsjahren davon, dass viele Soldaten seine Fernbriefe für Bilanzbuchhaltung, Volks- und Betriebswirtschaftslehre sowie Steuerrecht bezogen. Es wäre unfair und verfehlt, ihn deshalb als Kriegsgewinnler abzustempeln. Mein Vater mit Unternehmerblut in den Adern erkannte als Geschäftsmann die Chancen und nutzte sie. Etwas für die Bildung zu tun, ist und war zu keiner Zeit und in keinem System ehrenrührig.

      Für meine Mutter gilt abgewandelt: „Bauer sucht Frau – Bäuerin sucht Mann.“ Sie stammte aus einfachen Verhältnissen, einer bäuerlichen Familie aus Lüchow bei Celle. Eine blonde, wunderschöne, grazile und charmante Frau, die es nicht nur meinem Vater angetan hatte.

      Mutti hatte zwar nur einen Volksschulabschluss. Aber wer sie kannte, mit ihr sprach oder von ihr eingeladen wurde, sah sich einer gebildeten Dame mit feinen Umgangsformen und besten Manieren gegenüber. Bewandert in Literatur, Kunst und Kultur. Ausgestattet mit zielsicherem Geschmack, was gediegene Wohnungseinrichtung und modische Kleidung betraf. In ihre Familie passt sie ebenso wenig hinein wie ich in ihre Vorstellungswelt.

      Mutti fand sich nie damit ab, dass mich Königshäuser, Filmstars, Schmuck und schicke Kleidung nicht interessierten. Umgekehrt störte mich an ihr, dass Äußerlichkeiten und Ambiente beherrschend waren für die Einschätzung anderer Menschen. Als ich ihr bei meinen seltenen Besuchen voller Stolz erzählte, dass ich einen großen Vortrag halten würde im Bonner Beethoven-Saal, fragte sie nicht nach Anlass und Thema, sondern nur, was ich anzuziehen gedenke.

      Als mein Vater starb, galt ihr Blick allein der passenden Trauerkleidung. Nicht anders sah es aus bei der Taufe und Konfirmation meiner Kinder sowie bei Elkes Hochzeit. Die einseitige Ausrichtung auf Äußerlichkeiten und ihre übertriebene Eitelkeit entfernten uns menschlich noch weiter voneinander. Sicherlich würde meine Mutter auch unsere Bundeskanzlerin Angela Merkel ablehnen, weil ihr schicke Kleidung wohl noch weniger bedeutet als mir selbst.

      Zwischen Mutti und mir lagen Welten wie das trennende Gewässer in der großen symphonischen Dichtung: „Es waren zwei Königskinder.“ Am vorderen Ufer steht die Eitelkeit als Tugend, am hinteren Ufer die Eitelkeit als Untugend. Für mich gilt die umgekehrte Bewertung.

      Meine Tochter Elke entsprach noch am ehesten ihrem Vorstellungsbild. Meinen Sohn Uwe, ein ausgesprochen sozialer Typ, stempelte Mutti allein wegen seiner Kleidung als „asozial“ ab. Sie bedachte ihn mit geringschätzigen Vorurteilen und lehnte ihn nicht minder ab als mich.

      Umgekehrt waren Muttis Pflichtbewusstsein und ihre Verlässlichkeit zu bewundern. Ihr Perfektionismus verwandelte jedoch jede größere Feier zum Alptraum. Daher rühren wohl meine unausrottbaren Vorbehalte gegenüber Festlichkeiten mit vielen Gästen. Im krassen Gegensatz dazu motivieren mich eigene freie Reden vor Tausenden von Menschen in einer großen Halle oder Arena. Stets komme ich ohne Power Point und Spickzettel aus.

      Meine Mutter verhielt sich mit ihrem „Betonkopf“ im Lebensalltag uneinsichtig bis hin zum Starrsinn. Sie wollte mich mit harten Strafen zum Spiel mit Puppen zwingen, verstärkte jedoch meine Abneigung. Typisch ist ihr schon erwähnter Anspruch: „Wenn ich weiß sage, ist es weiß, selbst wenn es schwarz ist.“ Gab ich nicht nach, winkten Schläge und Einsperren im dunklen, fensterlosen Abstellraum.

      Als schlimm empfand ich ihr „Märtyrertum“, wie Vati


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