Gleichheit oder Freiheit?. Von Kuehnelt-Leddihn Erik
Freilich darf man bei dieser Betrachtung des Sozialismus auch nicht vergessen, daß ein nationaler Etatist wie Hegel sein geistiger Großvater ist; de Tocqueville, der Deutschland im Jahre 1852 besuchte, sah sehr bald die verhängnisvollen Zusammenhänge92.
Es war dies derselbe geniale Alexis de Tocqueville, der mit seltener Scharfsicht und fast übersinnlicher Genauigkeit die Entwicklung der Demokratie und insbesondere der demokratischen Republik zur Tyrannis voraussah. Diesen Vorgang stellte er sich aber nicht als dialektischen Prozeß, sondern als direkte logische Folge vor. Wegen seiner souveränen Unvoreingenommenheit, seiner manchmal trockenen Ausdrucksweise und seiner wohlabgewogenen Urteile wurde dieser normannische Edelmann oft von oberflächlichen Lesern für einen Anhänger der Demokratie gehalten, was er gewiß nicht war. (Seine entschiedene Gegnerschaft zum Regime Napoleons III. hat zu seiner schiefen Beurteilung auch beigetragen.) Lord Acton schrieb über ihn:
»For Tocqueville was a Liberal of the purest breed, a liberal and nothing else, deeply suspicious of democracy and its kindred, equality, centralisation and utilitarianism.«93
Und Antoine Redier zitiert folgendes aus einem Brief de Tocquevilles:
»J’ai pour les institutions démocratiques un goût de tête, mais je suis aristocratique par l’instinct, c’est à dire, que je méprise et crains la foule. J’aime avec passion la liberté, la légalité, le respect des droits, mais non la démocratie. Voilà le fond de l’âme… La liberté est la première de mes passions. Voilà ce qui est vrai.«94
Einer der Gründe, die de Tocqueville bewogen hatten, nach Amerika zu fahren, war die Juli-Revolution, die diesem streng legitimistischen Adeligen gegen den Strich gegangen war. Nur durch die Verwechslung von Freiheit und Demokratie konnte man diesen Denker zu einem »Demokraten« stempeln. Der damalige amerikanische Militärattaché in Paris (1834), Francis J. Lippitt, äußerte sich über ihn mit folgenden Worten:
»From the ensemble of our conversations I certainly did carry away with me an impression that his political views and sympathies were not favorable to democracy.«95
Weit davon entfernt, ein Demokrat zu sein, sah Tocqueville vielmehr mit Bangen dem kommenden Weltsieg der Demokratie entgegen, den er jedoch weniger fürchtete und haßte als den darauffolgenden Akt im Drama unserer Zivilisation. Mit melancholischer Vorahnung schrieb dieser große Liberale:
»Les monarchies absolues avaient déshonoré le despotisme; prenons garde que les républiques démocratiques ne le réhabilitent.«96
Die katholische Atmosphäre97, in der er aufgewachsen war, machte es ihm unmöglich, ein kultureller oder historischer Determinist zu werden; dennoch hielt er die Aussichten für die Freiheit in einem demokratischen Zeitalter für gering. An Gobineau schrieb er:
»À mes yeux, les sociétés humaines, comme les individus, ne sont quelque chose que par l’usage de la liberté. Que la liberté soit plus difficile à fonder et à maintenir dans les sociétés démocratiques comme les nôtres que dans certaines sociétés aristocratiques qui nous ont précédés, je l’ai toujours dit. Mais que cela soit impossible, je ne serais jamais assez téméraire pour le penser.«98
Das Bild aber, das er von der kommenden Sklaverei so großartig und bedrückend in seiner Tiefe und Klarheit malte, zeugt von einer viel pessimistischeren Stimmung. Dieses teuflische Gemälde mit seinen unerbittlichen Einzelheiten und seiner unheimlichen Übereinstimmung mit den Tatsachen finden wir am Ende des zweiten Bandes seines berühmten Werkes: De la démocratie en Amérique99.
Seine Erwägungen beginnt er mit der Bemerkung, daß er während seines Aufenthaltes in den Vereinigten Staaten (1831–1832) und noch mehr nach seiner Rückkehr von dem Schreckbild einer neuen Tyrannei verfolgt würde, eines Despotentums, das die christlichen Nationen samt und sonders zu knechten trachte. Nach sorgfältiger Untersuchung der antiken Tyrannis kam er zu dem Schluß, daß trotz aller Willkür, Grausamkeit und Rachsucht der Cäsaren das totalitäre, allumfassende Element in ihrer Regierung fast vollkommen fehlte; die geographischen, kulturellen, sprachlichen, geschichtlichen und verkehrstechnischen Hindernisse hätten alles Streben nach einer vollkommenen Regelung des gesamten bürgerlichen und politischen Lebens auf einem größeren Gebiet zunichte gemacht. Von diesen Despoten des Altertums bemerkte er:
»…leur tyrannie pesait prodigieusement sur quelquesuns; mais elle ne s’étendait pas sur un grand nombre; elle s’attachait à quelque grands objets principaux, et négligeait le reste; elle était violente et restrainte.
Il semble si le despotisme venait à s’établir chez les nations démocratiques de nos jours, il aurait d’autres caractères: il serait plus étendu et plus doux, et il dégraderait les hommes sans les tourmenter.«100
Dann besteht er darauf, daß die kommende Tyrannis eine so grundlegend neue Form haben wird, daß es ihm beim besten Willen nicht gelingen würde, für diese eine allgemein verständliche Bezeichnung zu finden.
»Les anciens mots de despotisme et de tyrannie ne conviennent point. La chose est nouvelle, il faut donc tâcher de la définir, puisque je ne peux la nommer.«101
Seine Beschreibung beginnt nun mit dem Schaubild einer einförmigen Menschenmasse, von Leuten, die semblables et égaux sind, die von kleinen, gemeinen Vergnügen angezogen werden und im Grunde genommen ein animalisches Leben führen. Jedoch…
»Au-dessus de ceux-là, s’élève un pouvoir immense et tutélaire, qui se charge seul d’assurer leurs jouissances, et de veiller sur leur sort. Il est absolu, détaillé, régulier, prévoyant et doux.
Il ressemblerait á la puissance paternel, si, comme elle, il avait pour objet de préparer les hommes à l’âge viril; mais il ne cherche, au contraire, qu’à les fixer irrévocablement dans l’enfance; il aime que les citoyens se réjouissent, pourvu qu’ils ne songent qu’à se réjouir. Il travaille volontiers à leur bonheur; mais il veut en être l’unique agent et le seul arbitre; il pourvoit à leur sécurité, prévoit et assure leurs besoins, facilite leurs plaisirs, conduit leurs principales affairs, dirige leur industrie, règle leurs successions, divise leurs héritages: que ne peut-il leurs ôter entièrement le trouble de penser et la peine de vivre?«102
Dies ist ein getreues Abbild des totalitären Staates, wobei uns allerdings die Betonung einer Eigenschaft, die zweimalige Erwähnung der Milde, stört. Wir dürfen nicht vergessen, daß im totalitären Staat Brutalität und Grausamkeit nur Mittel zu einem bestimmten Zweck sind. Auch beziehen sich Tocquevilles Gedankenbilder auf eine friedliche Evolution (und Degeneration), auf einen langsamen Vorgang des Wechselgeschehens und des Verfalles, in dem die Menschen allmählich zu Mikroben und der Staat zu einem Leviathan wird. Sein Irrtum ist höchstens zeitlicher Natur. Wenn der soziologische (psychologische, kulturelle, charakterhafte) Niedergang mit der stürmisch-verhängnisvollen politischen Entwicklung nicht Schritt hält – mit anderen Worten: wenn volle politische Totalität und Uniformität erreicht wird, bevor das Menschenmaterial wirklich dafür bereit ist, so muß eine Schreckensherrschaft einsetzen, damit die Bevölkerung »ausgejätet« und somit auf einen »gemeinsamen Nenner« gebracht werden kann. Diese Gewalteingriffe aber sind nicht nur selbst einengender Natur, sondern sie brauchen auch den »blassen Schrecken«, um während der Operationen zum Zwecke des »Stillhaltens« weitgehende Lähmungserscheinungen hervorzurufen. Eine solche Lage ergibt sich zum Beispiel dann, wenn die Demokratie noch nicht genug Zeit gehabt hat, die für die Tyrannis günstigen menschlichen Bedingungen zu schaffen, wenn, sagen wir, die Kräfte einer personalistischen Religion noch sehr rege oder die Volks-, Stammes- und Rassenunterschiede zu stark betont sind, wenn Klassengegensätze die nötige Uniformität stören oder wenn weltanschauliche Strömungen die Bürgerschaft in mehrere Lager trennt. Unter diesen Umständen muß die Milde durch Konzentrationslager, Massendeportationen und Gaskammern ersetzt werden, bis eine ganz neue, völlig einförmige Generation heranwächst. Wenn jedoch dieser Entwicklungsprozeß gut »synchronisiert« ist, können alle diese Gewaltmaßnahmen vermieden werden. Leute, deren Zivilcourage darin ihren prägnantesten Ausdruck findet, daß sie sich wagen, alle