Sophienlust Staffel 14 – Familienroman. Elisabeth Swoboda
einmal ging er zur Bar, um eine Flasche herauszunehmen und sie an die Lippen zu setzen. »Wollen Sie auch?«, fragte er den jungen Mann lauernd. Zu seinem Ärger musste er feststellen, dass Christian Gentsch fabelhaft aussah, fast wie ein Leinwandheld. Er würde Inge bestimmt gefallen! Wenn sie sich auch jetzt noch ein bisschen dagegen wehrte, würde die Liebe in ihr doch irgendwann die Oberhand gewinnen.
Christian Gentsch überging die Frage des Dirigenten. »Gehen Sie ihr nicht nach?«, erkundigte er sich erstaunt.
»Wozu denn? Das war doch alles nur Theater. Glauben Sie, ich hätte das nicht durchschaut? Immerhin sind wir schon sechs Jahre verheiratet. In dieser Zeit lernt man einander kennen. Ja, Inge ist schon achtundzwanzig. Das hätten Sie nicht gedacht, nicht wahr? Sie sieht bedeutend jünger aus.«
»Mein Gott, in dieser Verfassung können Sie Ihre Frau doch nicht allein lassen. Sie kann sich etwas antun.« Christian hätte den Dirigenten am liebsten unsanft geschüttelt.
Doch Norbert ließ sich nicht aus der Ruhe bringen. Wieder setzte er die Flasche an, nahm einen kräftigen Schluck. Gleich darauf füllte er ein Glas, schob es Christian Gentsch zu. »Trinken Sie!«, befahl er barsch.
»Wenn ich geahnt hätte, dass mein Auftauchen solche Probleme auslöst, wäre ich natürlich nicht gekommen«, erklärte der junge Mann mit sympathisch klingender Stimme. »Ich war der Ansicht, dass es Schwierigkeiten wegen des Kindes gibt. Da wollte ich mich nicht vor der Verantwortung drücken, obwohl sie wahrscheinlich nur indirekt besteht.«
»Natürlich geht es um das Kind«, stieß Norbert böse hervor. »Ihr Kind! Zuerst habe ich geglaubt, ich könnte Uwe als meinen Sohn anerkennen. Ich habe mir große Mühe gegeben, das dürfen Sie mir glauben. Solange der Junge ein Baby war, ging es ja auch. Aber als er laufen lernte, als er überall bewundert wurde, konnte ich seinen Anblick nicht mehr ertragen. Es war eine schlimme Zeit für mich. Ruhig lebe ich erst wieder, seit Uwe in diesem Heim ist.«
»Und was kann ich tun?« Christian schüttelte verärgert den Kopf. Manchmal hatte er den Eindruck, es mit einem Verrückten zu tun zu haben. Waren denn alle Künstler so? »Ich bin Student, habe nicht einmal eine eigene Wohnung. Ich kann weder ein Kind zu mir nehmen noch eine Familie gründen. Es dauert noch mehr als zwei Jahre, bis ich meinen Doktor machen kann. Erst dann kann ich als Assistenzarzt etwas verdienen.«
»Dann werde ich Ihnen eben einen Kredit einräumen.« Immer wieder versuchte Norbert, den bitteren Geschmack in seinem Mund mit Whisky hinunterzuspülen. Doch es gelang ihm nicht.
»Das werden Sie tausendmal bereuen!« Christian Gentsch rührte das Glas, das Norbert vor ihn hingestellt hatte, nicht an. Er machte sich nichts aus Alkohol. Ein klarer Kopf war ihm lieber.
Ruckartig setzte der Dirigent die Flasche ab. »Stimmt genau. Ich will Inge nicht verlieren. Aber ich möchte endlich Klarheit haben. Ich möchte wissen, dass sie mich und keinen anderen liebt.«
»So etwas von Unvernunft gibt es wahrscheinlich nur einmal«, brummte der Student ärgerlich. »Sie spielen mit dem Feuer und wundern sich, wenn Sie sich dabei die Finger verbrennen. Eigentlich ist es sehr erstaunlich, dass Ihre Frau Ihnen nicht längst davongelaufen ist. So, wie Sie sie behandeln!«
»Was wissen Sie eigentlich davon?« Norbert Hellbachs Gesicht kam bedrohlich näher. »Sie haben ja keine Ahnung, was ich alles für Inge tue. Sehen Sie sich ihre Kleiderschränke an, ihre Schmuckkästen. Erst dann können Sie sich ein Urteil bilden.«
Der Atem des Dirigenten roch nach Alkohol. Angewidert wich Christian Gentsch zurück. »Wahrscheinlich haben auch Sie schon einmal gehört, dass es außer materiellen Gütern noch etwas anderes gibt, was Menschen verbindet, Liebe und Verständnis!«
Maßloses Erstaunen zeichnete sich auf Norberts Gesicht ab. »Habe ich meine Großzügigkeit nicht zur Genüge bewiesen? Ich hatte nichts dagegen, dass Inge das Kind eines anderen zur Welt bringt. Kann man noch mehr von mir verlangen? Und jetzt …, jetzt liefere ich ihr sogar den Vater. Ist das kein Beweis meiner Liebe?« Er schrie jetzt.
»Eine Quälerei ist es. Das haben Sie doch hoffentlich inzwischen eingesehen! Ihre Frau braucht Sie. Es ist Ihre Pflicht, sich jetzt um sie zu kümmern«, drängte der blonde Hüne.
»Und wer kümmert sich um mich? Glaubt ihr denn, es ist einfach für mich zusehen zu müssen, wie mir ein anderer die Frau wegnimmt?«
»Ich will Ihnen Inge nicht wegnehmen. Ich bin nur hier, weil Sie es von mir verlangt haben.«
»Inge!«, höhnte Norbert Hellbach. »Sie nennen meine Frau also bereits Inge. So weit ist es schon! Sie gefällt Ihnen, nicht wahr? Obwohl sie für eine Studentenbraut ein bisschen zu alt ist.«
»Darum geht es doch überhaupt nicht«, stöhnte Christian Gentsch. »Sie müssen nach Ihrer Frau sehen!«
»Ich denke gar nicht daran. Wenn sie wegläuft, ist das ihre Sache.«
»Dann gehe ich ihr nach.«
»Das könnte Ihnen so passen. Das wäre natürlich die Gelegenheit, das weinende Mädchen in die Arme zu nehmen. Doch so leicht mache ich es euch nicht. Sie bleiben hier!«
»Das wäre unverantwortlich. Ihrer Frau könnte etwas zustoßen.«
Norbert Hellbach lachte polternd. »Aber doch nicht hier! Nicht zu einer Zeit, da alle Wege von Kurgästen überschwemmt sind. Man ist hier nirgends allein. Wenn Inge wirklich Hilfe braucht, ist bestimmt jemand zur Stelle, der einspringen kann.«
»Ich begreife Ihre Gleichgültigkeit nicht.«
»Das glaube ich Ihnen aufs Wort. Wenn man ein charmantes Abenteuer wittert, ist man alles andere als ruhig.«
Norbert Hellbach lachte böse. Ihm war, als reiße er sich selbst in Stücke. Da war einerseits seine Liebe zu Inge, andererseits das Misstrauen und die Eifersucht, die ihn nicht mehr zur Ruhe kommen ließen. Er hatte gehofft, dass alles gut werden würde, sobald Inge den Vater ihres Kindes kennen und dann trotzdem bei ihm, Norbert, bleiben würde. Doch Inges Reaktion war ganz anders gewesen, als er sich vorgestellt hatte. Da war kein bisschen Selbstsicherheit, kein klares, überlegenes Nein für den Studenten gewesen. Zeigte ihre überspannte Nervosität denn nicht, dass er tatsächlich ihre geheimsten Wünsche ans Licht gezerrt hatte?
»Ich glaube nicht, dass einer von uns zu Abenteuern aufgelegt ist«, meinte Christian Gentsch sachlich. »Und wenn ich jetzt nach Ihrer Frau sehe, dann nicht, um ein Verhältnis anzuknüpfen, sondern deshalb, weil ich es für meine Pflicht halte.«
Der Student würdigte den Mann an der Bar keines Blickes mehr. Mit raschen Schritten verließ er die Ferienwohnung.
Hinter ihm polterte Norbert Hellbach. Er warf ein Glas gegen die Wand, doch das störte Christian nicht. Er hatte Mitleid mit der jungen hübschen Frau, die von ihrem Mann so herzlos behandelt wurde. Irgendwie hatte sie den Beschützer in ihm geweckt. Er würde sich nicht aufdrängen. Doch wenn er ihr helfen konnte, würde er keine Sekunde zögern.
Während der Lift leise surrend ins Erdgeschoss glitt, überlegte Christian, wie sonderbar das Schicksal oft war. Inge Hellbach und er hatten einen kleinen Sohn, obwohl sie einander vor einer Stunde noch gar nicht gekannt hatten. Aber dieser Gedanke war ihm durchaus nicht unangenehm.
*
Unschlüssig sah sich Christian Gentsch um. In welche Richtung sollte er gehen? Er war schon mindestens zwei Kilometer weit gelaufen, immer bergan. Zahlreiche Gruppen von Spaziergängern hatte er getroffen. Niemand hatte Inge Hellbach gesehen. Ob sie durch den Wald gelaufen war? Oder ob sie eine ganz andere Richtung eingeschlagen hatte?
Christian hastete weiter, sah sich ständig nach allen Seiten um. Doch er hatte keinen Blick für die Schönheit des Waldes. Die schlanken Tannen mit ihren hellgrünen Spitzen, die zarten Gebilde der Farne und die verborgen blühenden Heidelbeerstauden sah er überhaupt nicht. Er nahm das Trillern der Waldvögel nicht wahr und bemerkte nicht den frischen, herben Duft von jungem Grün und dunkler Walderde. Pfeifend ging sein Atem. Vom raschen Laufen klopfte sein Herz hart und schmerzhaft. Schweißnass klebte das T-Shirt an seinem Rücken.
Erleichtert