Sophienlust Staffel 14 – Familienroman. Elisabeth Swoboda
»Selbstgepflückt«, berichtete Christian mit strahlenden blauen Augen.
»Danke.« Inge reichte dem Studenten die Hand. »Man hat mir gesagt, dass Sie mich jeden Tag besucht haben.«
»Das ist doch selbstverständlich.« Christian drückte die schlanken Finger der Kranken. »Sie waren drei Tage lang nicht bei sich. Das Fieber stieg und stieg. Die Ärzte haben sich allerhand Sorgen um Sie gemacht.« Christian war unsagbar froh, dass diese bange Zeit hinter ihm lag.
»Aber Sie müssen doch sicher wieder nach Hause.«
Christian schüttelte lächelnd den Kopf. »Zurzeit sind Semesterferien. Da ist es ganz gleichgültig, wo ich mich aufhalte.« Niemals hätte er zugegeben, dass er Inge zuliebe in die Jugendherberge übersiedelt war. Für wenig Geld bekam er dort ein Bett und warmes Essen.
»Und …, und mein Mann?« Inges Frage war so leise, dass sie kaum zu verstehen war. In ihren Fieberträumen hatte die Kranke ihren Mann oft gesehen, war ihm nahe gewesen. Sie hatte sich mit ihm ausgesprochen, sich mit ihm versöhnt. Erst jetzt wurde ihr klar, dass nichts davon stimmte. Es war nicht Norbert gewesen, der zärtlich ihre Hand gehalten hatte, als sie, geschwächt von den Medikamenten, das erste Mal die Augen aufgeschlagen hatte.
»Er ist stolz wie alle Künstler«, versuchte Christian das Verhalten des Dirigenten zu rechtfertigen. Er hatte Norbert Hellbach in der Zwischenzeit nicht mehr gesehen, aber er hatte vom Hausmeister erfahren, dass der berühmte Mann kaum mehr nüchtern war.
Inge schluckte die Tränen hinunter. Norberts Teilnahmslosigkeit tat ihr weh. Spürte er denn nicht, dass sie ihn noch immer liebte? Sie liebte ihn trotz allem, was geschehen war.
»Es tut mir leid, dass Sie solche Unannehmlichkeiten unseretwegen hatten«, flüsterte Inge und wurde ein bisschen rot. »Ich schäme mich.«
»Aber davon kann doch keine Rede sein. Ich bin froh, dass wir einander kennengelernt haben. Sie sind ein Mensch, wie man ihn selten trifft. Ich bewundere Sie, Inge.« Zärtlichkeit schwang in Christians Worten mit. In jenen stillen Stunden, da er am Bett der Schwerkranken gesessen hatte, war ihm bewusst geworden, dass er Inge Hellbach liebte.
»Wir hätten nie voneinander erfahren dürfen.« Inge war es, als spüre sie einen Strick um ihren Hals, der sich immer enger zusammenzog. »Was soll nun werden? Gibt es überhaupt eine Lösung?«
Christian lächelte nachsichtig. »Bitte, machen Sie sich keine Gedanken. Es wird alles gut werden, glauben Sie mir. Sobald Sie gesund sind holen wir Uwe ab. Der Kleine gehört zu Ihnen, zu uns. Schließlich ist er unser Kind.« Die letzten Worte sprach Christian sehr leise. Ihm war ganz feierlich zumute. Seit zweieinhalb Jahren hatte er einen Sohn. Einen Jungen, den er nie gesehen hatte, dessen Mutter er zuvor nie begegnet war.
Inge schüttelte kaum merklich den Kopf. Sie hatte nicht die Kraft, all die Bedenken vorzubringen, die ihr durch den Kopf gingen. Sie stand zwischen zwei Menschen, die sie beide von Herzen liebte. Zwischen Norbert, ihrem Mann, und Uwe, ihrem Söhnchen. Wie sollte sie sich entscheiden? Wie schön, wie einfach wäre alles gewesen, wenn sie hätten miteinander leben können. Doch das war wohl unmöglich geworden. Norberts Eifersucht würde sich nie mehr unterdrücken lassen. Sie war wie ein vernichtendes Feuer, das ihn selbst zerstörte.
»Erzählen Sie mir ein bisschen von ihm«, bat Christian Gentsch leise. In der vergangenen Nacht hatte er nur wenig geschlafen. Lange hatte er hin und her überlegt und war zu dem Schluss gekommen, dass er sein Studium aufgeben musste. Inge und dem Kind zuliebe. Die beiden waren wichtiger als alles andere. Für sie würde er gern jede Arbeit annehmen.
Nur zu gern kam Inge dieser Aufforderung nach. Wie jede Mutter war sie stolz auf ihr Kind. Doch sie hatte das bisher nie zeigen dürfen. Norbert gegenüber hatte sie Gleichgültigkeit geheuchelt, hatte den Jungen in Gesprächen nie erwähnt. Wie gut tat es ihr nun, endlich einen interessierten Zuhörer zu haben, endlich von dem sprechen zu dürfen, was ihr Herz am meisten beschäftigte.
»Er ist ein drolliger kleiner Kerl.« Eine sanfte Röte überzog Inges Wangen, ließ es frisch und gesund aussehen. »Schon als Baby hatte er eine braune Haut und lustige Löckchen. Wenn er lacht, ist es, als gehe die Sonne auf. Er gewinnt die Herzen aller Menschen im Sturm. Wer ihn sieht, hat ihn gern. Uwes Augen sind wie zwei strahlende Sterne. Er ist immer munter, immer guter Dinge. Ich glaube, ein so zufriedenes Kind gibt es selten. Er hat auch als Säugling kaum geweint. Und seit er laufen kann, ist er rührend darum bemüht, mir zu helfen. Er schleppt meine Tasche, putzt die Schuhe und macht seine dicken Bäckchen heiß und rot.«
»Ich könnte Ihnen stundenlang zuhören, Inge«, meinte der Student lächelnd. Begeisterung sprach aus seinem Blick. Begeisterung für die hübscheste und charmanteste Mutter, die er je gesehen hatte.
»In meiner Tasche sind Fotos von Uwe. Wenn Sie Interesse daran haben, die Tasche ist im Schrank.« Inge deutete auf das Abteil, das die Schwestern für sie belegt hatten.
»Wie können Sie da noch fragen? Ich brenne darauf, meinen kleinen Sohn kennenzulernen.«
Mit zitternden Fingern reichte Inge dem Studenten die Aufnahmen, die dieser lange und nachdenklich betrachtete. Die Bilder zeigten ein reizendes Kleinkind, das lebhaft und intelligent wirkte.
»Hübsch«, murmelte der junge Mann überwältigt. »Mir ergeht es wie allen Leuten: Ich habe den Kleinen gern, obwohl ich ihn noch nie gesehen habe. Nie hätte ich geglaubt, dass ich einmal einen so hübschen Sohn haben würde. Doch das hat er bestimmt von der Mama. Die Augen zum Beispiel und das süße kleine Näschen.«
Inge presste fest die Lippen zusammen. Norbert hatte immer behauptet, dass Uwe seinem Vater gleiche. Doch wahrscheinlich hatte er das nur getan, um hervorzuheben, dass weder er noch sie etwas mit dem Kind gemein haben. Damit hatte er Uwe immer mehr aus ihrer Gemeinschaft ausgeschlossen. Und nun gab es darin überhaupt keinen Platz mehr für das Kind. Durfte auch sie, die Mutter, Uwe im Stich lassen? Durfte sie den liebebedürftigen kleinen Kerl der Obhut fremder Menschen anvertrauen? Würde sie das überhaupt fertigbringen? Sie hatte es ja versucht und war gescheitert. Nein, auch ihre Liebe zu Norbert änderte nichts daran, dass sie in erster Linie Mutter war. Uwe war noch so klein, so hilfsbedürftig und so sehr auf Liebe angewiesen. Man durfte ihn nicht einem ungewissen Schicksal überlassen.
Doch das bedeutete gleichzeitig die Trennung von Norbert. Inge erschrak bei diesem Gedanken. Schmerzvoll krampfte sich ihr Herz zusammen. Sie würde den Mann verlieren, den sie liebte. Aber das Kind würde sie reich dafür entschädigen.
»Ich bin richtig gespannt darauf, ihn kennenzulernen«, meinte Christian voll Begeisterung. Bisher hatte er sich nicht vorstellen können, wie es war, eine eigene Familie zu haben. Jetzt fand er es ganz wunderbar. Das Leben erschien ihm plötzlich sinnvoll und erfüllt.
»Wollen Sie das wirklich?«, fragte die junge Mutter leise. »Wir könnten doch so tun, als sei alles wie vorher. Wir könnten vergessen, dass eine fixe Idee meines Mannes das Geheimnis gelüftet hat.«
»Das ist unmöglich«, antwortete der Student mit rauer Stimme. »Ich kann Sie nie mehr vergessen, Inge. Sie nicht und Uwe nicht.«
»Und was wird Ihre Freundin dazu sagen?« Besorgt forschte Inge in dem hübschen, ein bisschen lausbubenhaften Gesicht des jungen Mannes.
Christian Gentsch schüttelte schmunzelnd den Kopf. »Es existiert keine Freundin. Bisher gab es für mich nur das Studium, meine Bücher und ein bisschen Sport. Jetzt erst ist mir klar geworden, was ich alles versäumt habe. Sie und Uwe werden mein ganzes Leben ändern.« Seine breite Brust hob und senkte sich in rascher Folge. »Ich habe eine abgeschlossene Lehre als Krankenpfleger. Es wird nicht schwer sein, eine Anstellung zu finden.«
»Und Ihr Studium?«, fragte Inge erschrocken. Ihr wurde klar, dass Christian auf dem besten Weg war, ihr einen Heiratsantrag zu machen. Er war Uwes Vater. Aber trotzdem gab es bis jetzt keine tiefe Bindung zwischen ihnen.
Inge horchte in sich hinein. Nein, sie liebte den jungen Mann nicht. Aber musste sie nicht im Interesse des Kindes handeln? Uwe brauchte nicht nur eine Mutter, er sollte auch einen Vater haben. Ein Vorbild, an dem er sich orientieren konnte,