Skyle. Esther Bertram
zum Winterreich mochten sich sonst auf Handelsabkommen beschränken, doch noch immer kamen junge Angehörige der Wintergarde nach Melody, um hier einen Teil ihrer Ausbildung zu absolvieren. Im Gegenzug gingen die Soldatinnen und Soldaten aus dem Frühlingsreich und vereinzelt Mitglieder der Marine an den Winterhof. Fly hatte sich schon häufiger gefragt, warum die Frühlingskönigin dies zuließ. Das Herbstreich und die Sommerinseln waren Verbündete, zumindest auf dem Papier, doch das Winterreich war eine vollkommen andere Angelegenheit. Sie war überzeugt, dass Ihre Majestät schon längst einen offenen Krieg gegen das Winterreich deklariert hätte, wenn es keine so engen verwandtschaftlichen Beziehungen zwischen den Königshäusern gegeben hätte.
Bastien hatte sein Schwert aufgehoben. Auf der Suche nach besserem Stand rutschten seine Füße in den weichen Lederschuhen über den Boden. Das eigentümliche Geräusch riss Fly aus ihren Gedanken. Sie packte ihr Langschwert fester und stellte mit Schrecken fest, dass sie kurz davor gewesen war, den schlimmsten Fehler zu begehen, den ein Krieger machen konnte, indem sie ihren Fokus verlor.
»Konzentration, Fly!«, murmelte sie sich selbst zu. Mit grimmigem Gesicht und fest aufeinandergepressten Zähnen erwartete sie den Angriff. Sowohl Fly als auch Bastien wussten, dass sie diese dritte und letzte Runde schnell beenden mussten, wenn einer von ihnen den Sieg davontragen wollte.
Sie beobachteten einander und versuchten, eine Lücke in der Verteidigung des Gegners zu finden. Sie hatten nicht umsonst all die Jahre miteinander trainiert. Die ersten Runden waren mit Überraschungsangriffen gewonnen worden, nun waren sie auf der Hut. Ohne es zu merken, waren sie in eine Mischform aus beiden Schwertstilen übergegangen. Das führte dazu, dass keiner einen kritischen Treffer landen oder den anderen entwaffnen konnte.
So kam es, dass dieser letzte Kampf nach einer knappen Viertelstunde schließlich unentschieden endete. Fly und Meister Bastien waren vollkommen außer Atem und am Ende ihrer Kräfte, doch nach diesem ausgeglichenen Kampf konnten sie beide mit einem Unentschieden leben. Sie stützten sich schwer atmend auf ihre Schwerter, die Gesichter verschwitzt, einander musternd. Dann fingen sie beide fast gleichzeitig an zu grinsen und reichten sich die Hand zum Zeichen der Anerkennung.
»Das war ein fairer Kampf«, stellte Bastien fest, als Juuba ihnen Handtücher und Wasser reichte. Fly nahm einen tiefen Schluck Wasser, ehe sie den Krug an ihren Meister weiterreichte. Schon lange hatte sie nicht mehr so ein gutes Training gehabt. Sie legte die rechte Faust an die linke Handfläche und verbeugte sich tief.
»Vielen Dank für diesen lehrreichen Kampf!«, sagte sie, und sie meinte ihre Worte ernst.
Bastien setzte den Krug an und nahm einen Schluck. »Ich glaube, es ist an der Zeit, dass du dir einen neuen Meister suchst. Es gibt nichts mehr, was ich dir beibringen kann.«
Erschrocken richtete Fly sich auf. »Ich habe mit den anderen Ausbildern gesprochen«, fuhr Bastien fort. »Sie denken dasselbe.«
»Aber wenn ich hier nichts mehr lernen kann, wo dann?« Flys Blick schweifte zu den verschiedenfarbigen Uniformen in der Halle, ehe er zu Meister Bastiens Gesicht zurückkehrte.
»Fly, da draußen wartet eine Welt auf dich!«, verkündete er. »Irgendwo gibt es immer einen Kämpfer, der stärker ist als man selbst, ein Ort, der einem eine größere Herausforderung bietet als die, die man schon überwunden hat. Es geht immer weiter, und das macht den ganzen Reiz des Lebens aus.«
Fly starrte ihn sprachlos an, etwas, das selten geschah. Ihre Gedanken rasten, als sie sich der Tragweite der Aussage bewusst wurde. Sie sollte den Hof der Frühlingskönigin verlassen, um sich einen neuen Meister zu suchen? Ihre Majestät zurücklassen und losziehen in der vagen Hoffnung, irgendwo einen Kämpfer zu finden, der sie mehr lehren konnte? Niemals! Sie würde die Königin nicht verlassen, um nichts in der Welt. Ihr Platz war im Glaspalast von Jazli, und niemand würde sie hier wegbringen.
Anscheinend hatte Meister Bastien ihr ihre Gedanken an der Nasenspitze angesehen, denn er lachte leise.
»Warum lachen Sie?«, fragte Fly gereizt.
Ihr Schwertmeister schüttelte amüsiert den Kopf. »Du bist mindestens doppelt so alt wie ich und verhältst dich schlimmer als meine jüngste Tochter. Du erinnerst mich ehrlich gesagt sehr an sie.«
Fly warf ihm einen todbringenden Blick zu und wandte sich ab.
Juuba trat neben sie, um sie zu beglückwünschen. »Das war unglaublich! Ich habe dich selten so verbissen kämpfen sehen.« Sie strahlte über das ganze Gesicht. »Du warst wirklich, wirklich gut. Übrigens, wir haben eine Einladung für morgen Abend. Ein paar von den Herbstadeligen haben eine Feier geplant. Ich habe gehört, ihr Quartier ist eine der Prachtvillen am Südrand der Stadt.«
Fly runzelte kurz die Stirn. »Haben sie gesagt, was sie vorhaben?«
Juuba schüttelte den Kopf. »Nein, aber scheinbar sind wir nicht die einzigen Gäste. Wenn du willst, kann ich mich umhören.« Fly zögerte, doch Juuba stieß sie sanft an. »Komm schon«, drängte sie, »es wird dir guttun, mal ein bisschen aus Jazli rauszukommen. Außerdem haben wir uns schon lange nicht mehr so richtig amüsiert.«
»Wie, du meinst seit dem Ausritt vorgestern?«, stichelte Fly. Andererseits, vielleicht würde es ja ganz lustig werden. Also stimmte sie zu.
Juuba klatschte übermütig in die Hände. »Wunderbar! Dann sage ich ihnen gleich Bescheid!« Und schon war sie verschwunden.
Fly bückte sich, um ihre Trainingswaffe aufzuheben, als ein Palastdiener auf sie zueilte. Fly erkannte ihn als einen Leibdiener der Königin.
»Ihre Majestät, die Frühlingskönigin, wünscht, dich zu sprechen.« Der Mann senkte die Stimme. »Sie bittet um eine Eskorte für den Drachenkaiser Viper.«
Fly hatte ihren ungewöhnlichen Besucher beinahe vergessen. »Warte kurz«, bat sie den Diener. Sie verschwand im Umkleideraum, schlüpfte in ihre offizielle Uniform und den kurzen hellgrünen Militärmantel und folgte dem Mann zügig zum Audienzsaal der Königin.
Lautlos trat Fly durch eine verborgene Tür in den Audienzsaal und nahm ihren Platz hinter dem Thron der Frühlingskönigin ein.
Die Königin und Drachenkaiser Viper kamen gerade aus dem angrenzenden Besprechungsraum zurück, in ein angeregtes Gespräch vertieft. Fly fiel auf, wie sehr sie sich ähnelten. Beide hatten die stolze, selbstbewusste Haltung der Herrschenden. Man konnte ihre Macht förmlich greifen.
Fly konnte kaum die Augen von Viper lassen. Seine wächserne Haut verstörte sie, die silbernen farblosen Haare, seine blutleeren Lippen. Schwacher, metallischer Blutgeruch umgab diesen Mann, und der süßliche Gestank von Gift. Flys Blick huschte zu Bat, die mit zwei weiteren Hofdamen an einem der Bogenfenster saß. Die Drachin verzog keine Miene.
Vipers Geruch bestätigte nur, was Fly schon wusste: Viper war gefährlicher als andere Drachen. Seine Macht und sein Ansehen gaben ihm die Möglichkeit, Dinge zu tun, die sich Fly nicht einmal ausmalen wollte. Sie wusste nichts über ihn, nur dass er als Südlicher Drachenkaiser großen Einfluss besaß.
Die beiden waren inzwischen in Hörweite. Viper schüttelte gerade den Kopf. »Ich danke Euch für Euer Angebot, es ehrt mich. Aber ich fürchte, dass ich ablehnen muss.«
Die Königin lächelte mild. »Das ist sehr bedauerlich. Ich hatte gehofft, zwischen unseren Völkern könnte eine dauerhafte Allianz entstehen.«
Viper erwiderte ihr Lächeln schmallippig. »Ich fürchte nicht.« Er entdeckte Fly, die sich im Hintergrund hielt. Fly fiel zum ersten Mal auf, dass seine Augen genauso farblos waren wie der Rest seines Körpers. Und obwohl Vipers Augen sie nur streiften, sah sie, dass die Iris seines rechten Auges blassgolden war, die seines linken silbern. »Ihr habt einen exquisiten Geschmack«, bemerkte Viper, als sein Blick weiter durch den Raum schweifte. Er ließ dabei offen, worauf er sich bezog.
»Vielen Dank«, erwiderte die Frühlingskönigin. »Ich bedauere, dass Ihr den weiten Weg vergebens gemacht habt.«
Vipers Miene wurde berechnend. »Es war mir eine große Ehre.«
Fly ging auf, wie gefährlich es war, diesen Mann ins