Skyle. Esther Bertram

Skyle - Esther Bertram


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den Händen und sah Rhino kalt an. »Lass mich eines klarstellen: Es ist mir egal, wen ich töte. Ich töte um des Tötens willen, und solange ich dafür gut bezahlt werde, ist es mir gleichgültig, ob meine Beute Menschen, Drachen oder sonst einem Volk angehört.« Er breitete die Arme aus. »Außerdem macht es mir Spaß, zu jagen und meine Beute zur Strecke zu bringen. Und natürlich macht es Spaß, sie am Ende zu töten.«

      Rhino erschauerte. Zum ersten Mal zeigte er Angst. »Das ist es also.« Er senkte den Kopf. Sein helles, blutgesträhntes Haar fiel ihm in die Stirn. »Die Drachen sind dir gleichgültig.« Er atmete rasselnd ein. »Es ist nicht wahr, was sie über dich erzählen, Black Sniper. Sie sagen, du seist grausam und mitleidlos, aber sie liegen falsch. Du bist völlig wahnsinnig!«

      Raven feixte. »Meinst du, ja?« Er tat, als würde er nachdenken. »Vielleicht hast du recht. Vielleicht bin ich wahnsinnig, vielleicht auch nicht. Aber was auch immer ich bin, es ändert nichts daran, dass ich dich jetzt töten werde.«

      Rhino umfasste seine blutigen Klingen fester. Es war Rhinos eigenes Blut, das daran herabtropfte. Dieser Kampf war längst entschieden. Seine Miene war eine Maske aus Schmerz und Hass. »Du verfluchtes Monster! Ich werde nicht zulassen, dass du weiterhin Drachen tötest!«

      »Ganz, wie du willst.« Damit zielte Raven und drückte ab. Die Loumegeschosse schlugen lautlos in Rhinos Brust ein und traten aus seinem Rücken wieder aus. Der weißhaarige Drache fiel, und dieses Mal würde er nicht wieder aufstehen. Seine muskulösen Glieder zuckten unter Krämpfen. Er hob ein letztes Mal den Kopf und sah Raven an. »Bastard«, stieß er hervor, dann brach der Blick seiner hellroten Augen und er lag still.

      Ein Windstoß fuhr durch die Baumwipfel. Der Wald schien aufzuseufzen. Ein Wispern raunte auf der Lichtung, als sich der Bannzauber auf Rhino löste und er seine ursprüngliche Drachenform zurückgewann.

      Ohne den Toten eines weiteren Blickes zu würdigen, stieg Raven über ihn hinweg und hielt auf die verfallene Jagdhütte und die Felsen dahinter zu. Der schwere Blutgeruch überdeckte beinahe die Duftspur, die der Zerleger hinterlassen hatte. Raven steckte mit einer geübten Bewegung seine Pistolen in die Halfter. Er sah sich um. Es war an der Zeit, diesen Ort zu verlassen. Schließlich hatte er einen Auftrag zu erledigen.

      • 19 •

      Lynx stand an der Brüstung einer der zahlreichen Brücken, die über den Fluss von Autonne Gale führten, und starrte versonnen hinab auf die wirbelnden schwarzen Wassermassen. Es war bitterkalt. Eisschollen trieben den Fluss hinunter, von der Steinbrüstung hingen kleine Eiszapfen. Sie hatte sich den Tag freigenommen, um ihre Gedanken zu sortieren und die Buchführung der letzten Wochen zu machen. Ab und an, so wie heute, hatte sie das Bedürfnis, raus an die frische Luft zu kommen, irgendwo anders zu sein. Die Spaziergänge halfen ihr, einen klaren Kopf zu bekommen. Meistens lief sie zum Ufer der Himmelsinsel, zu den Klippen beim Wasserfall, der hinter ihr mit ohrenbetäubendem Lärm über den Klippenrand hinausschoss. Heute allerdings war sie auf der Brücke hängengeblieben, gebannt vom stetig wechselnden Muster des dunklen Wassers.

      Die Brücke war zu schmal für Nurek-Wagen oder andere schwere Gefährte, und so war es ein Fluss aus Leibern, der an Lynx vorbeifloss. Vor allen Dingen waren es Menschen und Moosvolk, vereinzelt auch Angehörige anderer Völker, schwer bepackt mit Bündeln oder Paketen. Einige zogen Handkarren hinter sich her, andere hielten Kinder an der Hand, sie bildeten einen stetigen Strom wie der Fluss, über den sie wanderten. Doch Lynx nahm die Leute kaum wahr, ihre Gedanken waren in den schwarzen Fluten und den grauen Wolken.

      Dieser Winter forderte seinen Preis. Wie immer traf es die Ärmsten zuerst. Lynx war schon seit Monaten nicht mehr in den Slums unterhalb des Wasserfalls gewesen. Aber einige Mädchen hatten dort Familie und sie erzählten von der Verzweiflung, die in den Armenvierteln herrschte. Im oberen Teil der Stadt war die Situation nicht viel besser. Auf dem Markt gab es kaum noch Lebensmittel zu kaufen, die Kornspeicher der Stadt waren leer. Lynx bezweifelte, dass Kornlieferungen aus dem Frühlingsreich noch vor der Sturmpause am Winterende ankämen, selbst wenn die Handelsschiffe umgehend lossegelten. Keiner wusste, wie sie diesen Winter überstehen sollten.

      Wäre es möglich, die Vorräte umzuverteilen? Sie hatte Amanda, die Besitzerin des Pfeifenden Ebers, vor einigen Tagen getroffen und mit ihr darüber diskutiert. Am Ende war ihre ernüchternde Erkenntnis gewesen, dass eine Umverteilung nur funktionierte, wenn man die reichen Fabrikinhaber und die Herbstadeligen in ihren Villen einbezog. Und erfahrungsgemäß hatten ebendiese kein Interesse am Wohlergehen der Ärmeren. Immer das gleiche Problem: Die Macht weniger baute auf dem Elend vieler auf.

      Vielleicht konnte Lynx den Stadtrat überzeugen. Viele seiner Mitglieder kamen regelmäßig mit ihren Familien in den Dragon. Vermutlich konnte Lynx sie dazu bewegen, zumindest einen Vorstoß zu wagen, um die Hungersnot abzuwenden. Aber wollte sie das? Es würde Aufmerksamkeit auf sie lenken und das war das Letzte, was sie gebrauchen konnte. Die Gefahr, dass sie als Drachin enttarnt wurde, war zu groß. Wenn sie so starken Einfluss auf den Stadtrat nahm, setzte sie alles aufs Spiel, was sie sich hier in Gale aufgebaut hatte. Dieses Risiko würde sie nicht eingehen.

      Sie bemerkte ihn erst, als er direkt neben ihr stand. Für einen Augenblick fragte sie sich, wie lange er wohl schon dort gestanden hatte. Dann überwog die Freude über das unverhoffte Wiedersehen.

      »Varg! Was machst du denn hier?«

      »Ich war auf der Suche nach dir.«

      Lynx sah ihn überrascht an. »Nach mir? Warum das?«

      »Ich habe dir etwas mitgebracht, darum.« Aus dem Nichts zauberte er einen üppigen Strauß Blauastern hervor und reichte ihn ihr. »Schöne Blumen für eine schöne Frau.«

      »Vielen Dank! Sie sind wirklich schön. Wo hast du sie her?«

      »Ich habe sie gepflückt.«

      »Wer hat sie gebunden?«

      »Ich, wer sonst?«

      Lynx hatte bereits vor Wochen aufgehört, sich über Varg zu wundern. »Ich wusste gar nicht, dass es noch Astern gibt.«

      »Ich habe sie auf den Frühlingsinseln gepflückt«, erwiderte er.

      »Was hast du da getrieben?«

      »Ich habe etwas gesucht. Aber das ist eine lange Geschichte.«

      »Ich würde sie gerne hören.«

      »Gern. Sie ist ohnehin einer der Gründe, weshalb ich dich gesucht habe, zusammen mit einer Bitte. Hast du Zeit?«

      »Ja«, antwortete sie. »Ich habe mir bis heute freigenommen. Aber was hältst du erst einmal von Mittagessen?«

      Varg machte keinen Hehl aus seinem Magenknurren. »Viel. Meine Geschichte ist allerdings nicht für fremde Ohren bestimmt.«

      »Wir können im White Dragon reden.«

      »Aber hast du nicht frei?«

      »Ich bin nicht die Einzige, die kochen kann. Die Mädchen sind alle ziemlich gut.«

      »Wenn sie bei dir in die Lehre gehen, müssen sie das sein.«

      Gemeinsam kehrten sie zum White Dragon zurück. Auf dem Weg erzählte Varg von seiner Arbeit auf der Werft und von dem neuen Projekt, das er in den kommenden Tagen beginnen würde, und Lynx berichtete vom White Dragon und ihrem Leben mit den Mädchen. Varg brachte sie mit witzigen Kommentaren und intelligenten Bemerkungen zum Lachen. Sie merkte, dass sie ihn in den letzten Wochen vermisst hatte.

      Als sie den Dragon erreichten, hielt er ihr die Tür auf. Sie bedankte sich mit einer kleinen Verbeugung. Kaum war die Eingangstür hinter ihnen ins Schloss gefallen, steckte Sakura den Kopf durch die Schwingtür zur Küche.

      »Oh, Kajin! Willkommen zurück! Hey, Varg! Lange nicht gesehen!«

      »Hallo, Sakura«, begrüßte Varg sie freundlich.

      Mitsu erschien neben Sakura und bedachte Varg mit einem prüfenden Blick. »Mittagessen, nehme ich an?«

      Lynx nickte. »Ja, bitte.«

      »Ist


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