QUARANTÄNE (The Death 1). John W. Vance

QUARANTÄNE (The Death 1) - John W. Vance


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Cassidy öffnete den Mund und flüsterte etwas; ihre Augen blieben fest geschlossen.

       Da schüttelte Margaret sie kräftig. Cassidy reagierte, indem sie die Lider aufschlug.

       »Na also. Erklären Sie uns, was Ihnen Ihrer Meinung nach fehlt. Benötigen Sie Medikamente? Bitte lassen Sie sich helfen.«

       Cassidy schob ihren Ärmel wieder hoch, sodass man die rote, dicke Schwellung sah, wo man ihr die Spritze gesetzt hatte. Die Stelle war nun von rötlichen Pusteln umgeben.

       »Was ist das?«, staunte Margaret und wich vor ihr zurück, weil sie befürchtete, es handle sich um etwas Ansteckendes.

       Cassidy zeigte darauf und antwortete mühselig: »Injektion.«

       Die Stewardess wandte sich wieder an den Mann: »Wissen Sie, ob sie Medikamente nimmt?«

       »Wie gesagt, ich weiß gar nichts; wir lernten uns gerade erst kennen.«

       Plötzlich setzte sich Cassidy aufrecht hin, als sei ihr Körper hochgezogen worden. Sie riss ihre nun stark blutunterlaufenen Augen auf und stierte die Rückenlehne des Sitzes vor sich an.

       Margaret und der Mann betrachteten sie verwundert – und jetzt auch mit einiger Unruhe.

       Diese Unruhe war nun auch im gesamten Flugzeug spürbar, da die Passagiere entweder zugehört oder versucht hatten, etwas von dem zu sehen, was vor sich ging.

       Ein Teenager kniete in Reihe 22 auf seinem Sitz und schaute auf Cassidy hinab. Er filmte mit seinem Smartphone. Wie viele andere seiner Generation hielt er es für nebensächlich, Hilfe zu leisten, und wollte vielmehr jedes tragische oder dramatische Ereignis mit seinem Gerät festhalten. Die Technik bescherte der Gesellschaft genauso viel Gutes wie Schlechtes. Der Bursche nahm alles mit leicht verzückt funkelnden Augen auf und hoffte wohl, es werde ihm zahllose Aufrufe bei Youtube bescheren.

       Cassidy machte ihren Hals lang, um Margaret anzusehen. »Ich glaube, die haben mir irgendetwas eingebrockt.«

       »Wer hat Ihnen was eingebrockt?«

       »Ich … reagiere allergisch auf …« Erneut verwies sie auf ihren rechten Arm.

       »Was ist damit?«

       So wie ihr der Schweiß in Strömen von Gesicht und Körper lief, sah sie aus, als habe sie gerade auf einem Heimtrainer gesessen. Die Kleider klebten ihr klatschnass am Leib.

       Auf einmal erschien der Pilot und fragte: »Margaret, was ist hier los?«

       »Ich weiß nicht genau, was sie hat, aber sehen Sie selbst.«

       Er beugte sich wie die Stewardess nach vorne. »Ma’am, wie kann ich Ihnen behilflich sein?«

       Cassidy blickte zu ihm auf und antwortete: »Devin.«

       »Wer ist Devin?«

       Da krümmte sie sich und erbrach ohne Vorwarnung gegen die Rückenlehnen von Reihe 22.

       Der Teenager rief: »Wie ekelhaft! Ich hab was abbekommen!«

       Cassidy würgte erneut. Der Gestank von Galle und halb verdautem Essen stieg allen ringsum in die Nase.

       »Ich werde landen. Lassen Sie die Menschen ihre Plätze einnehmen«, ordnete der Pilot an und kehrte ins Cockpit zurück.

       Übergab sich Cassidy gerade nicht, schaute sie auf und bettelte: »Helfen Sie mir.«

       Die anderen Passagiere starrten bloß. Einige wussten nicht so recht, wie sie helfen konnten; andere schreckten zurück, weil sie Angst hatten, sich eine Krankheit einzuhandeln.

       Dann knisterte der Bordfunk: »Hier spricht Ihr Captain. Wie Sie alle wissen, befindet sich eine Passagierin unter uns, der es sehr schlecht geht. Bis nach New York ist noch zu weit, also werde ich in Indianapolis notlanden. Dort erhält die Kranke medizinische Behandlung. Bitte entschuldigen Sie die Unannehmlichkeiten, doch ich darf Ihnen versichern, Sie alle werden Ihr Reiseziel erreichen.«

      Tag 183

      2. April 2021

      Decatur, Illinois

      Egal wie oft er sich die zerknitterten Zeitungsschnipsel anschaute, die er mit ihren schmalen Rändern an die nackte Holzwand geklebt hatte, wollte er sich weiterhin einreden, alles sei ein Albtraum gewesen, aus dem er bald in seinem kleinen, aber gemütlichen Appartement neben Cassidy aufwachte.

       Sein Blick huschte von einem Artikel zum nächsten, während er vergeblich nach einem Hinweis suchte – irgendetwas, das ihm eine Antwort auf den ganzen Wahnsinn geben konnte.

      4. Oktober: Rätselhafte Krankheit bricht im Mittleren Westen aus.

       5. Oktober: Krankheit verbreitet sich bis an beide Küsten.

       6. Oktober: Gouverneure in mehreren Staaten rufen den Notstand aus.

       8. Oktober: Krankheit wird zur Pandemie.

       10. Oktober: Präsident ruft nationalen Notstand aus.

       12. Oktober: Zahl der Opfer erreicht 35 Millionen.

       13. Oktober: Ausschreitungen.

      Beim Lesen kam er nicht umhin, sich von der roten Farbe ablenken zu lassen, mit der er »Gott steh uns allen bei« über die Ausschnitte gesprüht hatte.

       Devin machte sich von diesem qualvollen Ritual los und fuhr mit seiner täglichen Routine fort. Dazu gehörte auch Tagebuchschreiben; es erwies sich als therapeutisch und verband ihn in gewisser Weise mit seiner Vergangenheit. Während die Feder seines Stifts über die dünnen Seiten des Spiralblocks jagte, wurde er von der Sonne geküsst, deren erste Strahlen auf ihn fielen. Er gönnte sich einen Augenblick, um durch die einzige Scheibe des Stalls zu schauen. Ein anderes Fenster zur Welt, außer dieser kleinen Öffnung, hatte er nicht mehr. Draußen bot sich ihm das gleiche Bild wie seit einem halben Jahr: Die unendlich weiten Felder, auf denen sorgfältig Mais angebaut worden und eingegangen war. Die hohen Pflanzen standen da wie Statuen. Sie hatten wie alles andere gelitten und ihr Leben gelassen, aber nicht wegen der Pandemie, sondern aufgrund von Vernachlässigung. Jetzt fungierten sie als Barriere zwischen Devins Unterschlupf in dem alten Stall und dem verseuchten Rest des Planeten.

       Er erinnerte sich täglich an seine Reise von Indianapolis zum Haus seines Cousins in Decatur, Illinois. Jene Fahrt als Höllenritt zu bezeichnen, hätte an Untertreibung gegrenzt, denn sie war viel schlimmer gewesen. Man hatte im Zuge der Ausbreitung der Seuche alle Flughäfen geschlossen, sodass er in Indianapolis festsaß, ohne sich an irgendjemanden wenden zu können. So war er einzig anhand der Adresse auf seinem Handy zu Toms Bauernhof gefahren. Er hatte ihn nur zweimal getroffen, und zwar jeweils in frühster Kindheit, den persönlichen Kontakt aber, wie es in vielen Familien der Fall war, nicht aufrechterhalten und nur über Facebook mit ihm kommuniziert. Die sporadischen Konversationen waren stets mit dem üblichen »Treffen wir uns mal irgendwann« versehen worden – natürlich in allen Fällen bedeutungslose Worte und vor allem eine Höflichkeitsfloskel für Unterhaltungen, von der sich die Menschen nicht trennen konnten.

       Heute genau vor sechs Monaten hatte er das mit Cassidy erfahren. Im Nachhinein wünschte sich Devin, er wäre vor jener halben Ewigkeit ans Telefon gegangen. Er hatte nie zu den Menschen gehört, die nicht ohne ihr Handy leben konnten; für ihn war es nichts weiter als eine praktische Hilfe im Alltag und insbesondere für Notfälle gewesen. Diese Hassliebe zu Mobiltelefonen hatte dazu geführt, dass sein Gerät stummgeschaltet in einem anderen Zimmer liegen geblieben war.

       Devin hatte erfolgreich als Texter gearbeitet und ein Umfeld ohne Ablenkungen gebraucht, um produktiv zu sein. An jenem Tag hatte er die Vibrationen des Gerätes gehört, sich aber nicht weiter darum gekümmert. Erst beim späteren Nachsehen war ihm aufgefallen, dass er ein halbes Dutzend Anrufe von einer unbekannten Nummer verpasst hatte. Als er die erste hinterlassene Nachricht abhörte, musste er bereuen, nicht reagiert zu haben. Diese Reue war bald zu Verzweiflung geworden. Nachdem ihn mehrere Personen im Krankenhaus durchgereicht hatten, war er endlich an jemanden geraten, der ihm hatte sagen können, was mit Cassidy geschehen war. Daraufhin hatte er sich ohne Zögern in den nächsten Flieger nach Indianapolis gesetzt.

       Die Verzögerung, die sich aus seiner Nachlässigkeit ergeben hatte, sein Handy zu überprüfen, hatte fatale Folgen:


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