QUARANTÄNE (The Death 1). John W. Vance

QUARANTÄNE (The Death 1) - John W. Vance


Скачать книгу
Ziehen daran fiel eine kleine Handtasche um, sodass deren Inhalt herauspurzelte. Lori zog noch einmal, wobei sie den Schuh losreißen konnte, aber auch einen Blick auf die verstreuten Sachen warf, unter welchen sich ein Foto von Madeleine befand. Sie hatte es längere Zeit nicht betrachtet und fragte sich, warum es herausgefallen war; dann fiel ihr auf, dass jemand den Reißverschluss der Tasche geöffnet hatte.

       »Lori, mach endlich!«

       Nachdem sie den Schuh und das Foto unter dem Bett hervorgezogen hatte, warf sie einen unauffälligen Blick auf ihre Tochter und berührte deren Gesicht auf dem Bild.

       David war mit seiner Geduld am Ende. Er stürmte ins Zelt, packte sie am Arm und zog sie hoch. »Nimm die Schuhe einfach mit, komm jetzt!«

       Sie ließ das Foto fallen. »He, einen Moment.«

       »Genau das ist es, Lori, wir haben keinen Moment mehr. Sollten wir unsere Namen verpassen, weißt du, was passiert.«

       Er hatte recht, sie durften die Ausrufung nicht verpassen, denn dann würde man sie weniger ersprießlichen Arbeitskreisen zuteilen, und David war der Ansicht, dies bedeutete, sie könnten niemals einen der begehrten Plätze in Camp Sierra erhalten.

       Eine kleine, aber lautstarke Gruppe im Lager hatte begonnen, schlecht darüber zu sprechen, doch David hielt Unterstellungen, Camp Sierra sei beileibe keine wünschenswerte Bleibe, für dämliche Verschwörungstheorien. Er war ein sehr gelehriger Mensch und besaß zwei Masterstudienabschlüsse, genauer gesagt in Welt- und speziell amerikanischer Geschichte. In seinen Augen durfte man nichts, was nicht bewiesen oder durch verlässliche Belege und Daten untermauert werden konnte, als Wahrheit erachten. Ihm missfielen Gerüchte, und vor allem Verschwörungstheorien entstammten seiner Ansicht nach von Personen mit üppiger Fantasie.

       Die Sonne schien hell, und ihre Strahlen auf der Haut zu spüren, tat Lori gut.

       Sie eilten durch das Zeltlabyrinth, bis sie den weiten Platz in der Mitte des Geländes erreichten. Dort standen alle in ordentlichen Reihen – wie Soldaten bei einer Parade –, die Lager 13 ihr Zuhause nannten. Es war in vier Quadranten zu jeweils gleich vielen Zelten unterteilt, die das zentrale Feld und ein Dutzend Hilfsgebäude umgaben.

       Lori und David liefen über den Kiesweg zu ihrer Reihe. Während sie sich durch die Reihen drängten, stießen sie ihre Mitbewohner an und entschuldigten sich dafür, ehe sie endlich ihre Plätze erreichten.

       »Wo seid ihr gewesen?«, fragte Eric.

       »Tut mir leid, hab verschlafen«, antwortete Lori.

       »Psst«, mahnte David.

       Eine laute Stimme setzte sich über die Menschenmenge hinweg, indem sie einzelne Namen aufrief. Sie gehörte dem stellvertretenden Koordinator für Notfallmaßnahmen und Rettungsdienste Carlos Vasquez, der ihren Quadranten leitete und schon lange beim Katastrophenschutz arbeitete.

       »David Roberts!«, rief er.

       »Hier.«

       »Lori Roberts!«

       »Hier.«

       »Leidlich pünktlich heute Morgen«, spöttelte Carlos.

       Lori warf ihm einen bösen Blick zu und sagte: »Ich bin hier. Das ist das Einzige, was zählt, richtig?«

       Der Aufseher schaute sie streng an, hakte ihren Namen ab und fuhr mit den anderen fort.

       Als die tägliche Routine vorüber war, folgten Bekanntmachungen und für manche – jeder hoffte darauf – die Erlaubnis zum Umzug.

       Die großen Boxen der Beschallungsanlagen, die überall auf dem Gelände angebracht waren, erwachten mit einem Rauschen zum Leben.

       »Guten Morgen, Lager 13, wie geht es uns an diesem wunderbaren Morgen?«, fragte eine Stimme.

       Alle glotzten bloß unbeeindruckt.

       »Hier spricht Lagerkommandant Brockman. Heute ist ein aufregender Tag. Camp Sierra gedeiht prächtig, und dank dieses Erfolges, so ließ man uns wissen, wird dort expandiert. Was bedeutet das nun für 13? Es bedeutet, dass mehr von Ihnen die Möglichkeit erhalten werden, dort hinzuziehen. Deshalb wird die heutige Ausrufung mehr Namen umfassen als üblich. Bitte haben Sie weiterhin Geduld, während wir uns anstrengen, dass jeder ein Zuhause in Sierra finden wird.«

       David streckte seinen Arm aus und umfasste Loris Hand.

       Sie spürte, wie aufgeregt er war.

       Brockman rief sechs Personen auf.

       Jubel und Applaus kamen in Quadrant 2 auf, der ihnen gegenüberlag. Die Glücklichen traten aus der Formation hervor und eilten zur Mitte, wo mehrere Angestellte der Behörde sie zu einem geräumigen, roten Zelt begleiteten – dem Big Red, wie man es intern nannte. Dabei handelte es sich um die große Abfertigungsstelle am Eingang des Lagers, die man nur zweimal betrat, bei der Ankunft und vor dem Aufbruch, wann auch immer es dazu kommen mochte. Man konnte die Uhr danach stellen, dass binnen zweier Stunden nach dem Aufruf ein schwerer, weißer LKW ohne Fenster von dort aufbrach, begleitet von gepanzerten Wagen der Nationalgarde.

       David wandte sich Lori zu. »Na ja, dann vielleicht morgen«, seufzte er.

       Sie schaute ihn an, hielt es aber für besser, nichts zu entgegnen. Sie wollte nicht negativ sein, und eigentlich bedeutete es ihr auch nichts mehr, da sie sich damit abgefunden hatte, sehr lange in Lager 13 bleiben zu müssen.

       »Das wäre alles für heute, einen wundervollen Tag wünsche ich. Die Leiter Ihrer jeweiligen Quadranten werden von jetzt an alles Weitere übernehmen«, schloss Brockman. Die Lautsprecher klickten und verstummten.

       »Also gut, Quadrant 4, Ihre Zuteilung in Arbeitskreisen bleibt wie gestern«, knarrte Vasquez den 400 Bewohnern des Quadranten entgegen. »Frohes Schaffen.«

       Als sich die Reihen auflösten, beobachtete Lori die sechs Personen, die umziehen durften. Ihre Gesichtsausdrücke zeugten von einer Freude, die für sie selbst, so glaubte sie, nicht existierte. Auch David sah die Auserwählten neidisch an. Er war Lager 13 leid und wollte es so bald wie möglich verlassen.

       Plötzlich gingen die Lautsprecher wieder an.

       »Lori Roberts, Quadrant 4, möchte sich bitte bei der Verwaltung melden, ich wiederhole: Lori Roberts, Quadrant 4, melden Sie sich bei der Verwaltung.«

       Sie machte große Augen, als sie das hörte.

       David schaute sie an und bemerkt in leicht aufgeregtem Tonfall: »Vielleicht ist es etwas Erfreuliches.«

       »Das bezweifle ich.«

       »Lori Roberts, folgen Sie mir«, blaffte Vasquez, der mit einem Klemmbrett in der Hand nur ein paar Fuß weit neben ihnen stand.

       Lori sah David noch einmal an, hauchte ihm einen Kuss zu und wandte sich ab, um mit Vasquez zum Verwaltungsgebäude zu gehen.

      Decatur, Illinois

      Das Erste, was Devin spürte, waren pochende Schmerzen, die von seinem Hinterkopf ausgingen. Als ihm bewusst wurde, dass er nicht träumte, öffnete er die Augen und versuchte, sich aufrecht hinzusetzen, was er jedoch nicht konnte. Er schaute an sich hinunter und sah, dass er mit unzähligen Lagen Klebeband an einen Polstersessel im Wohnzimmer gefesselt worden war. Als er sich aufbäumte, um freizukommen, machte sich auch der Schmerz in seinem rechten Arm bemerkbar. Er stellte fest, dass dieser bandagiert und mit weißem Mull umwickelt war. Er ließ seinen Blick hektisch durch den Raum schweifen, um herauszufinden, ob seine Fängerin noch da war. Dunkelgelbes Licht, das von hinten einfiel, ließ darauf schließen, dass es bereits Nachmittag war, also hatte er sein Bewusstsein für mehrere Stunden verloren.

       Nach einigen Minuten Gezappel gab er auf und horchte. Dabei kam ihm der Gedanke, falls diese Frau seinen Tod gewollt hätte, wäre es ihr ein Leichtes gewesen, dies umzusetzen. Außerdem war sein verarzteter Arm ein deutliches Zeichen dafür, dass er zumindest vorerst nicht um sein Leben fürchten musste.

       »Hallo?«, rief er laut.

       Stille.

       »He, hallo, sind Sie noch da?«

       Nichts.

       Er wartete und lauschte, erhielt aber keine Antwort. Langsam machte er


Скачать книгу