QUARANTÄNE (The Death 1). John W. Vance
jemand auf ihn eingegangen war, hatte er erfahren, dass Cassidy nicht mehr lebte. Um alles noch schlimmer zu machen, hatte er nie die Gelegenheit erhalten, ihren Leichnam zu sehen, da dieser von Regierungsbeamten beschlagnahmt und fortgeschafft worden war.
Die letzten Eindrücke, die Devin von ihr bekam, stammten aus der Handykamera des Jungen aus Reihe 22. Das unstete, aber gestochen scharfe Bild des Videos ließ ihn schaudern. Cassidy krank und mit Schmerzen zu sehen, war zu viel für ihn gewesen. Er schaffte es nie, den Mitschnitt bis zum Ende zu sehen, doch jeder örtliche Nachrichtensender hatte ihn tagelang ausgestrahlt, von Youtube und den Sozialnetzwerken ganz zu schweigen. Was zunächst ein Einzelfall war, sollte sich bald häufen, und binnen weniger Tage hatten sich allerorts ähnliche Szenen wie in dem Flugzeug abgespielt. Nicht lange, und es wimmelte vor Handyfotos und -videos von Menschen mit den gleichen Symptomen.
Devin schaute hoch in den dunkelblauen Himmel. Immer noch zogen die Wolken willkürlich dahin, doch ihre Begleiter – die Vögel – fehlten. Er hatte seit Monaten weder sie noch andere Lebewesen gesehen. Seine selbst auferlegte Isolation bot Sicherheit, verschwieg ihm allerdings auch, was außerhalb der 20 Morgen des Gehöfts vor sich ging.
Der Tod war in seiner Raserei nicht wählerisch und rasch mutiert, sodass er bald jegliche Tiere erfasst und umgebracht hatte, genauso wie den Menschen.
Irgendwann fiel Devins Blick auf das Hauptgebäude. Er fragte sich, ob der Gestank endlich so weit verflogen war, dass er sich wieder hineinwagen konnte. Allmählich gingen seine Vorräte zuneige; er hatte das Haus gleich nach seiner Ankunft zum ersten und letzten Mal betreten, dabei alles zusammengerafft, was ihm auf die Schnelle in die Hände gefallen war, und es wieder verlassen, ohne etwas darin zu verändern. Er hielt sich fern, weil sein Cousin fest entschlossen gewesen war, nicht zuzulassen, dass die Krankheit seine Familie umbrachte, es deshalb selbst getan und danach Suizid begangen hatte. Devin war nie dazu gekommen, Toms Kinder kennenzulernen, doch auf Fotos sahen sie sehr niedlich aus: Ein Junge und ein Mädchen, die jeweils nicht älter als acht und sechs hatten sein können. Als er hier ankam, hatte er geklopft und geklopft, und war schließlich eingebrochen. Drinnen hatte ihm der Gestank angekündigt, worauf er schlussendlich stoßen sollte – die ganze Familie, vereint im Elternschlafzimmer des Obergeschosses des alten Bauernhauses. Der Anblick hatte ihn schockiert und abgestoßen. In der Zeit, bis er außer Fassung geraten und zum Stall hinübergeeilt war, hatte er so viel zusammengetragen wie möglich. Hier sollte er sicher verborgen bleiben, doch jetzt würde er, so er weiterleben wollte, zurückkehren müssen, und davor graute ihm.
Während der langen Tage und Nächte in seiner freiwilligen Gefangenschaft verfluchte er sich immer wieder dafür, nie Zeit aufgewandt zu haben, Überlebenstechniken zu lernen, geschweige denn etwas darüber zu lesen. Oft hatte er unverhohlen über Personen gelästert, die sich auf ebendiese Situation vorbereitet hatten, in der er sich nun wiederfand. Wörter wie »dämlich«, »albern« oder »naiv« waren ihm über die Lippen gekommen, um diejenigen zu beschreiben, die sich dem verschrieben hatten, gefolgt von »bescheuert«, »abstrus« und »reif für die Klapsmühle«. Jetzt verwendete er sie, um sich selbst zu beschreiben. Obwohl er überhaupt nichts vom Überleben verstand, überraschte es ihn, wie schnell er sich anpasste. Wäre er zuvor gefragt worden, wie hoch er seine Chancen einschätzte, sich im Zuge eines solchen Ereignisses zu behaupten, hätte er geantwortet, sich überhaupt keine auszurechnen.
Während er auf dem unebenen Erdboden im Stall hin und her ging, versuchte er, Mut zu fassen, um ins Haus zurückzukehren. Es war nicht so, dass er Angst hatte, sich irgendetwas einzufangen; vielmehr wollte er nicht noch einmal riechen, was ihm dort in die Nase gestiegen war. Ihm waren Geschichten über den abartigen Gestank von verwesendem Menschenfleisch zu Ohren gekommen, doch diese konnte er erst bestätigen, seitdem er es selbst gerochen hatte. Ein solches Odeur war ihm noch nie untergekommen und hatte ihm, verbunden mit dem Anblick aufgequollener Leichname, heftige Übelkeit bereitet. Er musste aber wieder hineingehen; von dem, was er aus dem Haus mitgebracht hatte, und den Vorräten, auf die er kurz darauf im Stall gestoßen war, war nämlich so gut wie nichts mehr übrig. Er wusste, bald würde er sich über das Haus und den Bauernhof hinaus auf Nahrungssuche begeben müssen. Bei diesem Gedanken graute ihm ebenfalls.
Im Laufe der vielen Monate im Stall hatte er jede Kiste, jeden Schrank und staubigen Winkel durchsucht. Was er auf seinem Abstecher ins Haus verwenden wollte, war eine Atemschutzmaske, die Toms Frau Jessica angezogen hatte, um ihrem Hobby nachzugehen, alte Möbel zu streichen und zu lackieren. So hoffte Devin, sich vor dem Gestank schützen zu können, falls dieser noch nicht verflogen war, denn dadurch würde ihm leichter fallen, was er tun musste.
Als er das verwitterte Tor des Stalls aufzog, fiel das Licht der Sonne auf ihn, die nun zu fortgeschrittener Morgenstunde höher am Himmel stand. Er hielt inne, um ihre Wärme einen Moment zu genießen. Der ausgetretene Pfad vom Stall zum Haus war noch immer sichtbar; er war noch nicht komplett überwuchert. Devin näherte sich langsam dem Haus, bis er die Treppe erreichte. Als sein Blick darauf fiel, wurde ihm bewusst, wie viele Tausende Füße die Stufen betreten hatten. In ihrer Mitte war die weiße Farbe abgeblättert und das Holz durchgetreten.
Nachdem er auf die Veranda getreten war, versuchte er, die Fliegengittertür zu öffnen, die seit seinem ersten Eintritt über ein halbes Jahr zuvor in einer Ecke aufgerissen war. Er zog sie auf und griff den kalten Messingknauf der massiven Eingangstür. Als er daran drehen wollte, kam ihm ein vertrautes, aber lange nicht gehörtes Geräusch zu Ohr: Das tiefe Bellen eines Hundes.
Er blieb stehen und sah sich um.
Erneut gab das Tier Laut.
Seit er einen Hund oder ein anderes Lebewesen gesehen, geschweige denn gehört hatte, waren sechs Monate vergangen. Die Küchentür, durch die er eintreten wollte, befand sich an der Südseite des Gebäudes, die unbefestigte Landstraße hingegen verlief davor in Richtung Norden, und rings um das Haus erstreckten sich Maisfelder.
Wieder bellte der Hund, diesmal näher, und zwar von der Nordseite her. Devin trat rasch ins Haus und schloss die Tür hinter sich. Den Hund gehört zu haben, machte ihm Angst, weil er befürchtete, er komme mit einem Menschen oder sei selbst hungrig. Nie zuvor in seinem Leben hatte er sich vor Hunden gefürchtet, doch jetzt war ihm klar, dass alles, was noch lebte, essen musste, und große Hunde waren definitiv imstande, einen Menschen zu reißen.
Er ging zügig durch die Wohnung und stellte sich an ein breites Erkerfenster, von dem er die geschotterte Einfahrt und die Landstraße dahinter sehen konnte. Er schob die Vorhänge beiseite und warf einen Blick hinaus, konnte aber nichts Auffälliges entdecken. Sein Herz raste, und er fing an zu schwitzen. »Komm runter, Dev, es ist bloß ein Hund«, redete er sich ein.
Da bellte das Tier wieder.
Er ließ den Blick weiterhin schweifen. Nicht eher wollte er sich auf die Suche nach Nahrungsmitteln begeben, bis er sicher sein konnte, wo der Hund war und wer ihn vielleicht begleitete.
Auf einmal sah er ihn. Es war ein großer Deutscher Schäferhund, der sich auf der Landstraße näherte. Merkwürdigerweise wirkte der Hund vergnügt. Devin wusste nicht, wie er darauf gekommen war, hatte sich sein Aussehen aber bedrohlicher vorgestellt.
Er neigte sich näher zur Scheibe, als würde es ihm helfen, besser zu sehen.
Plötzlich pfiff es laut, und das Tier blieb stehen.
Jemanden pfeifen zu hören, jagte Devin einen kalten Schauer über den Rücken. Er spürte, wie sich sein Herzschlag weiter beschleunigte und Panik in ihm aufstieg. Er sah hektisch hin und her, um die Person zu entdecken, die gepfiffen hatte.
Der Hund blieb vor der Einfahrt stehen und blickte die Straße zurück, doch die toten Maispflanzen hinderten Devin daran, zu erkennen, auf wen das Tier wartete. »Dev, reiß dich zusammen«, murmelte er und konzentrierte sich wieder aufs Atmen.
Er hatte seit seiner langen Reise nach Decatur keinen anderen Menschen mehr getroffen, und jene letzte Begegnung war nicht gewaltfrei gewesen. Schon damals hatte er sich kaum retten können, und jetzt konnte er sich nur zu gut vorstellen, dass die Menschen noch aggressiver waren. Er wusste, Lebensmittel waren unweigerlich knapp, also sollte es ihn nicht überraschen, auf andere Menschen zu stoßen, doch nachdem ihm sechs Monate lang niemand über den Weg gelaufen war, hatte er allmählich geglaubt, er sei der einzige Überlebende.