SNOW BONE. Guido Grandt
hinab in die ewige Verdammnis und den Pfuhl des Todes riss …
Und Veronica Cassavates schrie, schrie und schrie.
***
Als sie die markerschütternden Schreie vernahmen, war die frostige Nacht bereits weit fortschritten. Zuerst glaubten die Männer, die Hilferufe würden direkt aus der Wand hinter der Bar kommen, doch das war bestimmt nur eine akustische Täuschung. Vielleicht tönten die Laute auch über ein unsichtbares Belüftungssystem zu ihnen herüber. Aber davon hatten sie natürlich keine Ahnung, weil sie weder Bauingenieure noch Architekten, sondern nur einfache Holzfäller und Jäger waren.
Nach ihren seltsamen Visionen, von denen jeder von ihnen auf seine Art und Weise heimgesucht worden war, hatten sie einfach weitergetrunken.
Doch nun waren die vier alkoholisierten Männer auf einmal wieder hellwach.
»Verflucht, woher kommt das?« Peter Yorks Frage blieb zitternd im Raum stehen.
»D-D-Das hört sich an w-w-w-wie aus dem U-U-Untergeschoss …«, stotterte Romero.
Der athletisch gebaute Shaffer drückte seine halb gerauchte Zigarette in den mit Kippen überfüllten Aschenbecher. »Dann lasst uns mal nachsehen gehen!«
Obwohl sie viel getrunken hatten, fehlte ihnen die tapsige Unbeholfenheit von Säufern, als sie sich von den Barhockern schwangen. Die Männer waren allerdings einiges gewohnt, deshalb stolperten oder wankten sie auch nicht, sondern gingen mit halbwegs sicheren Schritten aus der Cocktailbar, hinaus. Gegenüber vom Speisesaal war der Lift, der sie ins Untergeschoss brachte. Als sie aus der Kabine stiegen, befanden sie sich vor der riesigen Küche, deren Doppeltür nach wie vor mit Gummikeilen offengehalten wurde. Dunkel und verlassen lag sie vor ihnen. Die gellenden Schreie waren jetzt verebbt. Dafür aber hörten sie aus den dahinterliegenden Kühlräumen ein heftiges Schluchzen.
Die Jäger nahmen den Weg an der Küche vorbei zum leeren Hauptkühlraum, dessen Tür ebenfalls offen stand und von dort aus in die abgeteilte Vorratskammer. Dort fanden sie Veronica Cassavates im ungekühlten Bereich, in dem der Rest des Trockensortiments lagerte. Die sonst so lebenslustige Frau saß auf einer Holzpalette, die auf dem kahlen Boden lag. Ihr kurzes, wasserstoffblond gefärbtes Haar war zerzaust und stand wie ein Wischmob von ihrem Kopf ab. Das hübsche Gesicht war ohne jegliche Farbe. Ihr Nasenpiercing funkelte im Neonlicht wie einer der dreißig Silberlinge, die Judas für seinen Verrat an Jesus von den Römern erhalten hatte.
Neben ihr lag eine leere, aufgerissene Schachtel Cornflakes auf dem Boden. Einige wenige Maisflocken waren um ihre Sneakers herum verstreut. Stumpfsinnig und mit seltsam entrückter Miene starrte sie auf ihre Füße.
Das Schluchzen war jetzt verstummt, doch dafür wiederholte sie immer wieder dieselben Worte:
»Katze … nicht schießen … Katze nicht schießen …«
Für die Jäger war klar, was sich hier zugetragen hatte. Veronica hatte sich über einen Teil der letzten Proviantvorräte hergemacht und war dabei von irgendetwas überrascht oder erschreckt worden. Jedoch bestimmt nicht von einem schießenden Stubentiger!
Dementsprechend groß war die Wut der vier angetrunkenen Männer, die nun um sie herumstanden. Lauthals beschimpften sie die Literaturstudentin.
»I-I-Ich zeig dir g-g-gleich wo’s l-l-lang geht …« Romero strich sich aufgebracht durch den brandroten Dreitagebart. Mit der Zungenspitze fuhr er sich in die Lücke, dorthin, wo der obere Schneidezahn fehlte.
»Gegen eine kleine Nummer hätte ich auch nichts einzuwenden«, stimmte ihm York zu. Mit seinen geschwollenen Tränensäcken unter den Augen, der kurzen Nase mit den großen Löchern sowie der hervorstehenden Unterlippe sah er aus wie ein Schwein, das auf Trüffeljagd war.
»Wenn du was zum Lutschen willst, Kleine, dann hole ich gleich meine Rauchwurst raus! Die ist viel griffiger und schmeckt garantiert.« Grinsend nestelte er an seinem Hosenschlitz herum.
Vor Begeisterung spuckte Waters auf den Boden.
»Immer ran, Ray, zeig‘s der tätowierten Pussy! Danach werde ich auch einen versenken.«
Bei dem Gedanken, ebenfalls zum Schuss zu kommen, knetete Shaffer in heller Vorfreude sein strammes Glied unter der Hose.
Gerade als York nach der weiterhin teilnahmslos dahockenden Frau greifen wollte, erklang hinter ihm eine nuschelnde Stimme. »Lass bloß die Pfoten von meiner Freundin!«
Ruckartig wandten sich die Jäger um. Ohne, dass sie es bemerkt hatten, waren Tobey, Ned, Laura und Britt in den Vorratsraum gekommen. Auch sie mussten die Schreie aus dem Untergeschoss gehört haben.
»Du dürre Bohnenstange willst mir drohen?«, fragte York aufgebracht. Sein ohnehin vom Alkohol gerötetes Gesicht färbte sich daraufhin noch dunkler.
»Das war keine Drohung …«
»Halt dein verfluchtes Maul!«
Ned Harlan, der neben Tobey stand, schluckte nervös. Angesichts der wild aussehenden, körperlich in allen Belangen überlegenen und offensichtlich durch Alkoholgenuss streitsüchtigen Jäger, wagte er keinen Mucks. Auch Laura und Britt blieben still, um die angeheizte Stimmung nicht zum Explodieren zu bringen.
Tobey wollte sich so schnell wie möglich um Veronica kümmern, die ununterbrochen flüsterte: Katze … nicht schießen … Katze nicht schießen …, als handele es sich dabei um einen irren Kinderreim. Wie eine Spinne stakste er auf seinen langen, streichholzdünnen Beinen auf die Männer zu, um an ihnen vorbeizukommen.
Der Vorderste von ihnen war Peter York, der mit seinen ein Meter siebzig gut dreißig Zentimeter kleiner war als der riesige Arness. Er musste den Kopf in den Nacken legen, um zu ihm aufblicken zu können. Aber das tat er ohne Furcht und mit finster dreinblickenden Augen.
Allerdings war es Shaffer, der fast gleich groß wie der Student war, der diesem nun in den Weg trat. Es sah so aus, als würde ein stämmiger Bär vor einem zu groß geratenen, ausgemergelten Wiesel stehen.
»Hör mir gut zu, Bohnenstange«, zischte er gefährlich leise. »Ich kenne meinen Freund. Wenn Peter dich erst mal in seinen Fingern hat, dann wird er dich genauso schlimm zurichten wie die Tiere, die er meistens nur anschießt, ohne sie sofort abzumurksen. Weißt du, warum er das macht?«
Irritiert schüttelte Tobey den Kopf, schwieg aber.
»Damit er sie quälen kann … und zwar lebend! Alles klar, Bohnenstange?«
Doch auch diese Warnung ignorierte der Student, der halb krank vor Sorge um seine Freundin war, und wollte den muskulösen Mann vor sich einfach zur Seite schieben. Allerdings hätte er auch versuchen können, einen Felsblock von seinem Platz zu räumen.
Ohne Vorwarnung verpasste Shaffer dem Hageren eine mächtige linke Gerade und setzte dann sofort mit einem rechten Haken nach, der Tobey regelrecht von den Füßen hob und zu Boden schleuderte.
Halb benommen und aus Nase und Mund blutend, blieb er liegen.
»Ich habe die Bohnenstange abgeräumt und du den Fatty«, brüstete sich Shaffer und blickte York an.
»U-U-Und was bleibt f-f-für mich ü-ü-übrig?« Romero riss seine Fäuste hoch und ging spielerisch auf Waters los, der wie ein kleines Kind mit ihm herumtollte.
Britt nutzte die Gelegenheit, um an Tobey vorbei zu Veronica zu gelangen. Sie kniete sich neben sie hin und fuhr ihr sanft mit der Hand durch das zerzauste Haar.
»Was ist denn los mit dir, Süße?«
Es schien so, als würde ihre Freundin aus einer Trance erwachen, die stark an Debilität grenzte. Ihr verschwommener, in sich gekehrter Blick richtete sich unendlich langsam auf Britt. Ansatzlos füllten sich ihre dunklen Augen mit Tränen, welche warm und salzig ihre blassen Wangen hinabrannen. Ein Weinkrampf schüttelte ihren Körper. Britt drückte sie fest an sich.
Ned Harlan ging jetzt mit unsicheren Schritten zu dem sich vor Schmerz krümmenden Tobey, dessen Gesicht