SNOW BONE. Guido Grandt
K-K-K-Kleinen, Peter. D-D-Der pisst sich v-v-vor Angst ja s-s-schon fast in die H-H-Hose!«
Hosenpisser …
Keiner der hier Anwesenden außer Laura und Caleb wussten, was dieses eine Wort für Harlan bedeutete. Das Erlebnis von letzter Nacht an der abgesperrten Wendeltreppe, bei dem er sich vor lauter Angst selbst eingenässt hatte, stand ihm wieder deutlich vor Augen.
Hosenpisser!
Bevor irgendjemand es verhindern konnte, riskierte Ned Harlan einen tollkühnen und unbeholfenen Angriff. Allerdings war er im Kämpfen genauso wenig geübt, wie sein Gegner beim Ausfüllen von Bankunterlagen.
In lässiger Überlegenheit wartete Peter York auf Harlan, und als dieser nahe genug heran war, bohrte er ihm die Faust tief in die Magenpartie, und nahm ihm damit für Sekunden die Luft. Ned klappte auf der Stelle wie ein Taschenmesser zusammen, während sein Gegenüber leichtfüßig und mit dem Oberkörper pendelnd vor ihm herumtänzelte.
Caleb erkannte in ihm einen Boxer, der er selbst auch war. Nun hielt ihn nichts mehr zurück. Er schubste York einfach in den Sessel zurück.
»Seid ihr verrückt geworden?« Er war jetzt außer sich vor Wut.
Alle waren aufgestanden. Die beiden Gruppen, in deren Mitte Caleb stand, sahen sich tief in die Augen. Erst jetzt fiel ihm auf, dass Romero fehlte.
Doch gleich darauf brüllte dieser vom Absatz der Treppe, die zu den Zimmeretagen hinaufführte: »I-I-Ich knall den v-v-erfluchten G-G-G-Geld-hai einfach a-a-ab!«
In den Fäusten hielt er auf einmal eine Kimber 8400 Caprivi Repetierbüchse, Kaliber .375 H&H Magnum, die er aus seinem Zimmer geholt hatte. Der Schaft bestand aus hochwertigem französischen Walnuss-Holz und war glänzend poliert.
Caleb kannte das Gewehr für die Großwildjagd, da ihm vor Jahren ein Hotelgast, ebenfalls ein passionierter Jäger, ein solches gezeigt und erklärt hatte.
Laura schrie schrill auf und auch Britt starrte voller Entsetzen auf die Waffe.
Der schlimmste Albtraum schien wahr zu werden und die Lage zu eskalieren.
Ned stand gebeugt da, die Hände auf die Knie gestützt. Der bleierne Schmerz in seinem Magen ließ nur langsam nach. Dicker Schweiß sammelte sich auf seiner Stirn.
Schritt für Schritt und mit hocherhobenen Händen ging der Hausmeister auf den Jäger zu, der weiterhin wie ein Irrer mit der Büchse herumfuchtelte.
»Wir sollten uns jetzt erst mal alle beruhigen«, sagte Caleb so ruhig wie möglich, obwohl ihm das Blut in den Ohren rauschte und das Herz wild in seiner Brust schlug.
»I-I-Ich puste diesem W-W-W-Wichser den f-f-fetten Schädel w-w-weg!«, schrie Romero weiter. »I-I-Ich schwöre euch, i-i-ich mache d-d-diese verfluchte S-S-S-Schwuchtel a-a-alle!«
Es war letzten Endes sein Kumpel Jack Shaffer, der ihn wieder zur Vernunft brachte. »Lass den Scheiß, Ray!« Die Worte waren laut und hart ausgesprochen worden und duldeten keinen Widerspruch. »Wir wollen hier keinen Ärger machen. Schließlich hat uns der Housekeeper freundlicherweise Einlass gewährt, sonst wären wir dort draußen schon längst zu Eis gefroren, kapiert?«
Nur widerwillig fügte sich Romero und nahm das Gewehr herunter. Doch als Caleb danach greifen wollte, schlug er ihm barsch die Hand weg.
»P-P-Pfoten weg, H-H-Housekeeper, m-m-mein Baby fasst k-k-keiner an!«
Caleb würde es dabei bewenden lassen, denn zunächst einmal war er froh, dass sich die Situation wieder entspannt hatte. Zum Glück hatte Hillary von alldem nichts mitbekommen.
»Ich würde vorschlagen, dass wir uns in einer halben Stunde im Speisesaal zum Lunch treffen.«
»Das hört sich gut an«, lispelte Waters. »Bin mal gespannt, was so alles auf den Tisch kommt. Ich habe nämlich einen Mordshunger!«
Die anderen drei Jäger stimmten in das Gegröle mit ein. Die fünf Freunde und Caleb Philbin schwiegen betreten.
***
Während in der Hotellounge die Emotionen zwischen den Jägern und Wanderern hochkochten, bereitete Hillary in der großen, ansonsten verlassenen Hauptküche den Lunch vor. Viel Auswahl gab es nicht mehr. Deshalb entschied sie sich für die wenigen Fleischvorräte, die noch im Kühlraum lagerten. Zwei ganze Kaninchen, die sie zuerst wusch und dann in die Backformen legte. Anschließend salzte und pfefferte sie das Fleisch, gab Öl, etwas Wasser und Zitronensaft hinzu. Ebenso Kräuter und klein gewürfelte Tomaten.
Hillary stellte die Backformen in den Bratofen und ließ alles bei zweihundert Grad Celsius eine Stunde lang garen. In dieser Zeit schälte und schnitt sie Kartoffeln und briet sie an. Als der Lunch fertig war und sie mit dem Rollwagen, beladen mit Schalen und Schüsseln, in den Speisesaal kam, hatten sich die Jäger bereits an einen Tisch neben den anderen gesetzt.
Noch immer waren die hohen Fenster gänzlich zugeschneit, sodass in dem weitläufigen Raum die Deckenbeleuchtung brannte.
Als Hillary das Essen servierte und so gerecht wie möglich verteilte, stellte Caleb ihnen seine Gemahlin vor. Wie zuvor bei Britt schnalzte Ray Romero anerkennend mit der Zunge. Sein Blick war nun fest auf die attraktive Frau mit dem langen, schwarzen Haar, den schräg stehenden Augen und den elegant geschwungenen Lippen gerichtet. Allerdings sparte er sich dieses Mal einen passenden Kommentar.
»Was, nur zwei verfluchte Karnickel und ein paar Kartoffeln für elf Personen?«, regte sich Waters auf. Als niemand darauf reagierte, wandte er sich an Caleb. »Habt ihr denn keine Vorräte mehr oder was?«
Der Hausmeister erklärte daraufhin den Neuankömmlingen die prekäre Lage, in der sie sich bezüglich des Proviants befanden. Anschließend herrschte tiefes Schweigen an den Tischen. Selbst den hart gesottenen Jägern war klar, was dies bedeutete.
Als Jack Shaffer mit dem rechten, gesunden Auge auf die Servierplatte vor sich starrte, hielt er für einen Moment mit dem Kauen inne, denn die restlichen Kaninchenstücke schienen seltsam zusammengekrümmt. Sie sahen aus, wie ein bizarr entstellter menschlicher Fötus!
***
Caleb Philbin dachte während des ersten gemeinsamen und friedlich verlaufenden Lunchs mit den Jägern und Wanderern, an den Eklat zuvor in der Lounge zurück. Auch dies brachte das ganze Dilemma, in dem sie in dem zugeschneiten Snow Hill Hotel steckten, zum Ausdruck.
Die unfreiwilligen Hotelgäste hatten sich nach dem Essen mit noch immer knurrenden Mägen auf ihre Zimmer zurückgezogen. Hillary räumte jetzt die Küche auf und Caleb kümmerte sich um das Leck einer Wasserleitung in einer der Besuchertoiletten neben der Eingangshalle, das durch den Frost entstanden war, und das er bei einem seiner täglichen Inspektionsgänge zufällig entdeckt hatte.
Als er das Leck abgedichtet hatte, wurde ihm plötzlich schwindlig. Alles verschwamm vor seinen Augen. Krampfhaft hielt er sich am Rand des Waschbeckens fest, doch es wurde schlimmer. Wie ein gewaltiger Schwall, der alle anderen Eindrücke auslöschte, brach es über ihn herein. Die stechend blauen Augen, die ihn aus dem Spiegel anstarrten, waren vor Schreck und Unglauben geweitet. Sein kantiges Gesicht war ganz grau und sein Herz klopfte so fest, dass es schon weh tat.
Dann war da plötzlich eine Stimme in seinem Kopf. Leise und hinterhältig. Sie schien ihm zu gehören und doch waren es nicht seine eigenen Gedanken.
Die Hundertnacht bricht an!
Immer und immer wieder dieselben Worte.
Die Hundertnacht bricht an!
Der Tonfall der inneren Stimme steigerte sich zu einem fast infernalischen Crescendo.
DIE HUNDERTNACHT BRICHT AN!
Und dann, hell wie ein flammender Sonnenaufgang, begleitet von einem Donnerschlag, schlugen gleißende Blitze in Calebs Pupillen ein, die ihn blendeten.
DAS HUNDERTJÄHRIGE JUBILÄUM