SNOW BONE. Guido Grandt

SNOW BONE - Guido Grandt


Скачать книгу
stand Veronica im Inneren der Kabine, die sechs Personen Platz bot. Tief unter ihr drangen aus dem Schacht unheimliche Geräusche herauf, so als lauerten dort irgendwelche Ungeheuer. Auf einmal überfiel sie die Panik, dass der Fahrstuhl aufgrund eines Kurzschlusses zwischen den Stockwerken stecken bleiben könnte. Sie atmete unwillkürlich schneller und presste die blutleeren Lippen zu dünnen Strichen zusammen.

      Als der Lift endlich im Untergeschoss ankam, gab es ein kreischendes Geräusch. Jetzt bereute Veronica es, nicht einfach die Treppe genommen zu haben. Von dem ganzen Lärm war bestimmt das Hausmeister-Ehepaar geweckt worden, dass hier unten sein Quartier hatte.

      Schnell zog sie das Messinggitter zurück und die Fahrstuhltür auf und stieg aus der Kabine. Für einige Sekunden verharrte sie regungslos und lauschte, ob Caleb oder Hillary Philbin nicht vielleicht bereits auf dem Weg zu ihr waren. Aber nicht der geringste Laut durchbrach die beklemmende Stille.

      Erst jetzt wurde Veronica bewusst, dass sie den falschen Aufzug genommen hatte, denn dieser hatte sie zwar ins Untergeschoss gebracht, aber weit weg vom eigentlichen Versorgungstrakt, der den Schildern nach auf der gegenüberliegenden Seite der Etage lag. Deshalb musste sie zu Fuß den langen, leeren und nur gedämpft erleuchteten Korridor entlanggehen, mitten hinein in das muffig riechende Zwielicht. Grotesk verzerrt tanzte ihr Schatten an den toten Mauern um sie herum, von denen eine düstere Macht auszugehen schien. Die Luft war durchsetzt von einem Geruch aus Feuchtigkeit und Schimmel.

      Außer den schwachen quietschenden Schrittgeräuschen, die die Gummisohlen ihrer Sneakers auf dem Linoleumboden verursachten, war alles ruhig. In diesem Trakt, der ausschließlich dem Personal vorbehalten war, hatten die Architekten auf teuren Teppichboden verzichtet.

      Die junge Frau beschlich plötzlich ein unbestimmtes aber beklemmendes Gefühl. Sie kam sich auf einmal so isoliert vor, wie noch nie zuvor in ihrem Leben. Die unheimliche Grabesstille und der Gifthauch des Gebäudes schienen sie buchstäblich zu verhöhnen. Es kam ihr wie ein Gang durch ein nicht enden wollendes Mausoleum vor.

      Weil sie plötzlich fror, zog Veronica fröstelnd die Schultern hoch. Fast wünschte sie sich jetzt doch, die Philbins würden auftauchen, nur um der beklemmenden, eisigen Einsamkeit entfliehen zu können.

      An jeder halb offenen Tür, an der sie vorüberhuschte, schienen missgestaltete Ungeheuer ihre Klauen nach ihr auszustrecken, um sie in die dahinterliegende Finsternis zu zerren.

      Nicht nur du, sondern auch das Snow Hill Hotel ist hungrig, Veronica …

      Die junge Frau beschleunigte ihre Schritte.

       Hunger nach Blut und Leben, Veronica …

      Das atemlose Grauen, das die Stimme in ihrem Gehirn auslöste, jagte ihr eine Gänsehaut nach der anderen über den Rücken.

       Nach DEINEM Blut und DEINEM Leben, Veronica …

      Durch ihre Eingeweide schien jetzt ein glühender Ast gezogen zu werden. Das heiße Grauen kroch ihr bis in die Brust und die Kehle. Nur mit äußerster Mühe gelang es ihr, einen Entsetzensschrei zu unterdrücken.

      Es dauerte eine Weile, bis Veronica den breiten Flur von Süden nach Norden genommen hatte, dann endlich erreichte sie die von Gummikeilen offengehaltene Doppeltür der Hauptküche. Irgendwo hier mussten die Kühl- und Vorratsräume sein.

      Veronica betätigte den Lichtschalter. Im Schein der Neonlampen lag die blitzblank geputzte Küche kalt und verlassen vor ihr. Die blassgrauen Fliesen und der Chromnickelstahl bildeten förmlich eine Einheit.

      Ihr Blick schweifte von der Spüle mit den drei Becken bis zu den Wandschränken und den Arbeitstischen, doch nirgendwo entdeckte sie Türen, die zu den gesuchten Provianträumen führten. Enttäuscht drehte sie sich um, machte das Licht aus und ging wieder hinaus.

      Auf einmal fiel ihr ein, dass die Vorratslager zwar an der Stirnseite der Küche lagen, aber nicht direkt von dort aus erreichbar waren. Dazu musste sie erst vom Korridor aus nach links abbiegen und an der rechten Außenwand der Küche entlanggehen. Schließlich stand sie vor dem Hauptkühlraum und öffnete den schweren Riegel. Abgestandener und fauliger Geruch schlug ihr von den Lebensmitteln entgegen, die hier vor Monaten aufgetaut und verdorben waren. Der Raum war komplett leer geräumt. Lediglich in den Ecken lagen unberührte Rattenköder. Von dort aus erreichte sie jedoch die begehbare, abgeteilte kleinere Vorratskammer, von der eine Hälfte gekühlt und in der anderen das Trockensortiment untergebracht war.

      Als Veronica die wenigen Lebensmittel inspizierte, die hier noch gelagert waren, überfiel sie unweigerlich ein eisiger Schrecken. Es war etwas ganz anderes, wenn man nur davon sprach, als wenn man das Dilemma mit eigenen Augen sah. Trotz allem wühlte der Heißhunger weiter wie ein herrenloser, amokfahrender Mähdrescher in ihrem Magen.

      Mit zitternden Händen riss sie deshalb eine Schachtel Cornflakes auf und schaufelte sich so viele von den Mais-Frühstücksflocken in den Mund, wie sie nur konnte. Gierig kaute und schluckte sie und machte fast die ganze Packung leer. Ein schlechtes Gewissen gegenüber Tobey oder den anderen hatte sie zwar schon, aber sie pfiff darauf. Dann wollte sie nach einer der wenigen Dosen mit geräucherten und luftgetrockneten Dauerwürsten greifen, doch in diesem Moment verkrallte sich irgendetwas in Veronica Cassavates Gehirnwindungen. So kam es ihr jedenfalls vor. Ihr Hals schnürte sich zu und sie konnte kaum noch atmen. Etwas trieb ihr das Grauen in den Leib, bis tief hinein ins Mark und auf dem Grund ihrer Seele.

      Etwas unsagbar Böses, Kaltes, Glitschiges und Erschreckendes …

       … und dann war da die schwarze Katze. Mit giftig gelben Augen starrte sie die Frau an. An ihrem Schwanz war eine Schnur befestigt, deren Ende um den Abzug eines Gewehrs gebunden war. Einer Henry Rifle, Kaliber .44 mit Edelholzkolben. Das mächtige Loch der pechschwarzen Mündung schimmerte wie der personifizierte Eintritt in die Hölle.

       DAS SCHIESSEISEN IST FEUERBEREIT, BABY!

       Wie ein flammendes Fanal brannte sich diese Erkenntnis unwillkürlich in Veronicas Denken.

      DAS SCHIESSEISEN …

       Die Katze starrte sie immer noch mit diesen schrecklichen gelben Augen an, die nichts Natürliches an sich hatten.

      IST …

      Bewege dich bloß nicht, du hässliches Vieh!, schoss es Veronica durch den Kopf. Bitte, bitte, bitte nicht …

      FEUERBEREIT …

      Der Stubentiger schnurrte, aber es war nichts Possierliches daran, es klang eher wie die eingeschaltete Motorsäge des grausamen Leatherface-Killers aus dem Horror-Schocker Texas Chainsaw Massacre.

      Abgrundtief böse. Entschlossen und tödlich.

      BABY!

       Jäh wurde die Tür der Vorratskammer aus den Scharnieren geschleudert, als würde sie aus Plastik bestehen. Veronica erschrak zu Tode. Aber nicht nur sie, sondern auch die schwarze Katze.

       Mit hochaufgestelltem Schwanz rannte der Stubentiger in die gegenüberliegende Richtung. Weg vom Türrahmen. Die Schnur spannte sich. Wie in Zeitlupe konnte die Frau sehen, wie der Abzug der Henry Rifle durchgedrückt wurde, bis der Hahn auf den hinteren Teil des Verschlusses krachte. Der Schlag übertrug sich auf die vorne liegenden Zündnocken, die links und rechts auf den Rand der Patrone hämmerten und diese zündeten.

       PPPEEEEENNNNNGGGGG …

       Die Schussdetonation war ohrenbetäubend.

       Wie Donner eines Tropengewitters rollte sie durch den Raum und hallte von den Wänden wider. Die Kugel Kaliber .44 bohrte sich in Veronicas Oberkörper, direkt unter der linken, tätowierten Brustwarze. Blut spritzte, Muskelfleisch, Sehnen und Knochen wurden wie unter dem Hammer eines Berserkers zerstört. Aus dem Stand wurde die Frau einen halben Meter hochgehoben und gegen eine leere, an der Wand aufgestellte Holzpalette geschleudert. Ihr blieb die Luft weg. Schlimmer noch aber war der übermächtige Schmerz der Schusswunde, als wäre in ihre linke Brustseite ein Stahlkeil zwischen


Скачать книгу