SNOW BONE. Guido Grandt
kratzte sich an seinem runden, pausbäckigen Gesicht und schenkte sich noch mehr ein. Er hob das Glas, sah seine Kumpels an und wollte einen Trinkspruch aufsagen, unterließ es dann aber. Alle vier tranken auf einmal aus.
Gedankenverloren starrte Waters auf den kurzflorigen Barockteppichboden. Auch ihm ging jetzt immer wieder die grausame Vorstellung über die Menschenfresserei durch den Kopf. Plötzlich verengten sich seine Pupillen. Das dezente Blätterrankenmuster schien ein seltsames Eigenleben zu entwickeln. Zwischen den einzelnen Ranken bildeten sich neue Dekore und fremde Ornamente …
Waters kniff die Augen zusammen und schaute genauer hin.
Nein, es waren Gesichter.
Menschliche Gesichter und doch … irgendwie unproportioniert und deformiert. Sie besaßen weit hervorquellende Augen, kraterartige Nasenlöcher und schwammähnliche Lippen. Grotesk, sonderbar und absolut widerwärtig.
Als sich einer der entstellten Münder öffnete und ein entsetzliches Stöhnen daraus herausdrang, schrie Waters unvermittelt auf. Alle Haare standen ihm zu Berge. Selbst über seinen Vollbart lief ein seltsames Kribbeln. Schnell löste er den ungläubigen Blick vom Teppichboden, um die monströsen Fratzen nicht länger betrachten zu müssen.
Er war erstaunt, dass seine Kumpels nicht auf sein Erschrecken reagierten. Doch sie saßen einfach nur wie versteinert da.
Shaffer und Romero starrten stumm auf den großen, runden Spiegel zwischen den Flaschenregalen. Denn die mit Aluminium beschichtete Glasplatte warf nicht etwa ihr unverzerrtes Abbild zurück, sondern etwas ganz anderes: Dutzende weit aufgerissene Augenpaare. Schimmernd, glänzend und rot glühend wie in Blut getauchte Silbermünzen. Furchtbarer als alles, was sich die Jäger bislang hatten vorstellen können.
Sage niemals vor dem Spiegel etwas Böses, denn er spiegelt das Gesagte …
Der starre Blick aus den Höllenaugen ließ etwas Unheimliches und Giftiges in ihren Mägen entstehen, sich windend und krümmend wie Giftschlangen. Diese Augen versprachen ihnen nur eines: den endgültigen Tod. Grausam und qualvoll. Einen Tod, der sie für immer in die ewige Nacht hineinzerrte.
Für immer und ewig …
Shaffer und Romero lief es eiskalt den Rücken hinunter. Sie waren unfähig, sich zu rühren.
Auch York bewegte sich nicht. Allerdings schaute er weder in den Spiegel noch auf den Teppichboden, sondern hinter den Tresen. Dort kratzte etwas ununterbrochen, als würden Krallen über Metall scharren. Tatsächlich wimmelte es in dem Zwischenraum von riesigen, rundlichen Wanderratten.
Die Nagetiere waren fast so groß wie ausgewachsene Katzen, mit dicken, haarlosen und mit Schuppenringen besetzten Schwänzen. Ihr Fell war schmutzig graubraun bis braunschwarz. Ihre onyxschwarzen Augen traten wie Murmeln hervor. Sie besaßen das typische Gebiss mit den beiden mächtigen Schneidezähne-Paaren. Deutlich sichtbar war darauf der harte Schmelz, der aufgrund des häufigen Nagens orangegelb verfärbt war.
Aber am schlimmsten war für York der Anblick ihrer strohigen Schnurrhaare in den stumpfen Schnauzen, denn in diesen hatten sich Fetzen rohen, blutigen Fleischs verfangen …
Auf einmal kamen aus allen Richtungen gleichzeitig die trippelnden Geräusche der wuselnden Ratten. Wie eine dunkle Flut ergossen sie sich aus großen Löchern in den Wänden in die Cocktailbar hinein und umkreisten die Lederhocker, auf denen die vier Jäger saßen.
Vor Schock und Ekel schrie Peter York laut auf und zog hastig die Beine an. Gleichzeitig wunderte er sich, dass seine Freunde gar nicht reagierten. Sahen sie die Nagetiere denn nicht?
Dann war es schlagartig vorbei.
Die Ratten verblassten genauso wie die Augen im Barspiegel und die Fratzen im Muster des Teppichbodens.
Im selben Moment erwachten die Jäger wie aus einer tiefen Trance. Sie schüttelten die Köpfe und schauten sich verwirrt an. Es dauerte jedoch gefühlte Minuten, bis sie in der Lage waren, sich gegenseitig von ihren entsetzlichen Wahrnehmungen zu erzählen.
Schließlich sagte Jack Shaffer: »Wir haben einfach zu viel gesoffen und deshalb halluziniert. Das ist alles.«
Doch insgeheim glaubten sie das nicht.
Keiner von ihnen.
***
Der Hunger nagte in ihren Eingeweiden wie die Ratten, die Peter York in der Cocktailbar gesehen hatte. Aber davon ahnte Veronica Cassavates natürlich nichts. Sie lag im Zimmer neben ihrem Freund Tobey Arness und zerwühlte die Decke, weil sie sich unruhig von einer Seite des breiten Doppelbettes auf die andere wälzte. Schon seit Stunden quälte sie sich und bemühte sich krampfhaft, Schlaf zu finden. Doch je mehr sie es versuchte, desto weniger schien es ihr zu gelingen. Letzten Endes war sie auch weit nach Mitternacht immer noch genauso hellwach, wie zu dem Zeitpunkt, als sie ins Bett geschlüpft war.
Tobey hingegen schlief wie ein Toter. In der ganzen Zeit hatte er sich nicht einmal bewegt. Er hatte sich bäuchlings, mit angewinkelten knochigen Knien auf der Matratze ausgestreckt, den Kopf seitlich nach links gedreht, den Mund leicht geöffnet. Leise Schnarchgeräusche, die sich wie stetes, weit entferntes Sägen anhörten, kamen währenddessen über seine Lippen,
Doch das war es nicht, was Veronica wachhielt. Das war sie bereits gewohnt, schließlich lebte sie schon seit ein paar Jahren mit ihrem Freund zusammen. Vielleicht war es die Auseinandersetzung mit den Jägern am Nachmittag, die sie nicht zur Ruhe kommen ließ. Hinzu kam noch die immer größer werdende Sorge um die stetig schwindenden Nahrungsmittelvorräte und das unaufhörliche Schneetreiben draußen vor dem Hotel, das sie über viele Tage oder gar Wochen von der Außenwelt abschneiden könnte. Vom Tal … vom Parkplatz … von ihren Autos … von Frisco.
Hunger …
Die beiden Kaninchen und die drei Hände voll Kartoffeln waren bei Weitem zu wenig gewesen, um elf erwachsene Personen sattzubekommen. Besonders, weil es nach dem Lunch nichts mehr gegeben hatte.
Hunger …
Veronicas Magen knurrte noch lauter. Das Verlangen nach Nahrung wurde langsam immer übermächtiger in ihr.
Leise stand sie auf, achtete darauf, dass die Boxspringfederung nicht quietschte, um Tobey nicht zu aufzuwecken, und schlüpfte in ihre Jeans und den dicken Kaschmirpullover. Danach zog sie sich die modischen, flachen Sneakers an, steckte die Schlüsselkarte ein, schlich zur Tür, schlüpfte hindurch und zog sie ganz sachte hinter sich zu.
Die Deckenleuchten auf dem Korridor waren bis auf ein Minimum gedämpft. Von draußen fiel bleiches Mondlicht durch die kathedralenartigen Fenster und zeichnete Muster und Schatten auf den Teppichboden. Bis in den ersten Stock hatten es die Schneewehen noch nicht geschafft, obwohl sie bereits mit ihren eisigen Fingern an der Unterseite der Fensterbänke kratzten.
Ein unheimliches Schweigen hatte sich wie eine Decke, die jegliche Geräusche erstickte, über das Snow Hill Hotel ausgebreitet. Nur das schwache Heulen des Windes, der nach wie vor aus Nordosten blies, drang zu ihr.
Veronica huschte über den Flur, vorbei an den Zimmern ihrer Freunde und der Jäger. Sie nahm allerdings nicht die Haupttreppe ins Untergeschoss, sondern den Fahrstuhl. Aus irgendeinem Grund scheute sie, die nächtliche Hotellobby und den Hauptkorridor im Erdgeschoss bis zum Lift, der sie in den Versorgungstrakt bringen würde, zu Fuß zu durchqueren. Was, wenn einer der Jäger noch auf war und ihr begegnete? Genau das wollte sie sich lieber nicht ausmalen, und ihr Freund wohl auch nicht, der allerdings sowieso gerade vollkommen ahnungslos oben im Zimmer fest wie ein neugeborenes Baby schlief …
Als die attraktive, wasserstoffblonde Frau, den mit verschnörkelten Ornamenten aus Kupfer und Messing verzierten Fahrstuhl betrat, sackte er ein wenig durch. Schnell schloss sie die Tür und drückte auf den Knopf ins Untergeschoss. Rumpelnd und knarrend fuhr der offenbar auf antik getrimmte Lift an, der aber tatsächlich alt war und sicher schon einige Jahrzehnte auf dem Buckel hatte. Das Rasseln des Messinggitters, das Zittern unter ihren Füßen und das gequälte