SNOW BONE. Guido Grandt
plötzlich vorbei. Langsam klärte sich sein Blick wieder und der Übergang zwischen Realität und Vision verwirklichte sich. Noch immer starrte ihn sein vor Entsetzen totenbleiches Spiegelbild an.
Die Hundertnacht. Das hundertjährige Jubiläum des Hotelbrandes …
Caleb konnte nur ahnen, was das bedeutete. Schließlich suchte ihn aufgrund seines ausgeprägten sechsten Sinnes nicht das erste Mal eine Vision heim. Aber selten mit einer solchen Intensität. Er nahm sich fest vor, nichts dergleichen bei seiner Frau verlauten zu lassen, denn dafür war es noch zu früh und die weltlichen Probleme zu groß.
Als Caleb vom Spiegel in das Waschbecken blickte, an dessen Rand er sich nach wie vor festhielt, entdeckte er vier Worte, die blutrot auf der weißen Keramik prangten.
DIE HUNDERTNACHT BRICHT AN!
TEIL 2: HUNDERTNACHT
In the darkness no one can hear your screams!
2-1
Es war eine unheilverkündende Nacht. Die Luft war angereichert mit einem sich windenden Etwas. Roh, bösartig und absolut tödlich …
Draußen zerrten und rissen die Naturgewalten weiter an den mächtigen Mauern des Hotels. Unablässig heulte und fegte der schneidige Wind um die säulenbewehrte Fassade. Das Gebäude ächzte, stöhnte und knarrte wie ein Schiff auf offener, stürmischer See. Vor den kathedralenartigen Fenstern fielen pausenlos Schneeflocken. Selbst von der Serpentinenauffahrt war nicht mehr viel zu sehen, geschweige denn von den Parkplätzen. Die Sport- und Kinderspielplätze waren bis auf halbe Höhe im Schnee begraben. Genauso die Taxi- und Bushaltestellen, die Garagen und die Geräteschuppen. Manche Wehen erreichten bis zu sieben Meter und begruben alles unter sich. Selbst die überdachte Aussichtsterrasse am Ostflügel des Snow Hill Hotels war mit Schnee und Eis bedeckt. Die nächtlichen Temperaturen blieben konstant bei Minus fünfzehn Grad.
Überall auf den Etagen herrschte geradezu eine Grabesstille. Ned und Laura waren nach dem Lunch genauso auf ihren Zimmern geblieben, wie Tobey, Veronica und Britt. Keiner von ihnen verspürte große Lust dazu, ihre Zeit mit den ungehobelten Jägern totzuschlagen. Wenn man sich aus dem Weg ging – und das war in einem Hotel dieser Größe ja wohl möglich – würde es auch zu keinen neuen Spannungen kommen. Nur bei den Mahlzeiten würde man sich zwangsläufig begegnen. Außer der Hausmeister würde zukünftig getrennte Essenszeiten einführen, was wiederum zu einem neuen Streit über das Wenige, was sie noch an Proviant besaßen, führen konnte. Die Gefahr war natürlich groß, dass eine Gruppe die andere verdächtigen würde, mehr zu bekommen.
Jack Shaffer, Ray Romero, Peter York und Eric Waters verspürten jedoch kein Bedürfnis, sich stundenlang in ihren zugewiesenen Zimmern aufzuhalten. Viel lieber saßen sie in der verwaisten Cocktailbar. Diese lag, wenn man die Eingangshalle durchschritt, rechterhand zwischen dem Speisesaal und dem Restaurant.
Die rauen Burschen saßen auf kostspieligen ledernen Barhockern um eine rechteckige, Mahagonitheke herum. Links und rechts von ihnen ragten ledergepolsterte Nischen mit hohen Rückenlehnen und glänzenden, schwarzen Tischen auf, die für Gäste gedacht waren, die es etwas ungestörter liebten. Sie erstreckten sich von der hohen Eingangstür aus nach beiden Seiten und machten dann einen Bogen um die lange Theke. Die gedämpfte Barbeleuchtung sorgte für eine intime Atmosphäre.
Alle Regale bis auf zwei waren leer. Reihen von schimmernden Flaschen mit verschiedenen Whiskey-, Wermut-, Weinbrand- und Likörsorten waren dort untergebracht. Wild Turkey, Gilby’s Sharrod’s Private Label, Jim Beam, Seagram’s, Kentucky Straight Bourbon, Tennessee Whiskey, Martini, französischer Cognac, Gin … Die Weine und Champagner hingegen waren ausgeräumt und standen wahrscheinlich irgendwo in den Vorratsräumen. Die auf Hochglanz polierten Bierhähne und die darunter liegenden Abflussbleche waren staubtrocken. Aber obwohl es kein Bier gab, schien noch immer das gärige, feuchte Aroma des Gerstensafts in der Luft zu liegen, geschwängert mit dem Geruch von Hochprozentigem sowie Reinigungsmitteln.
Irgendwo hatte Jack einen Aschenbecher aus schwerem Kristallglas gefunden sowie drei Streichholzheftchen, die jetzt vor ihm auf dem Mahagonitresen lagen. In seiner Rechten hielt er eine glimmende Zigarette. Träge kräuselte sich der Rauch zu der hohen Decke empor.
Außerdem standen vor den nächtlichen Barbesuchern Gläser mit Kentucky Straight Bourbon und Tennessee Whiskey, denen sie schon reichlich zugesprochen hatten.
»Der Schneesturm wird nicht so schnell vorübergehen«, meinte Eric Waters lispelnd. Genauso wie Shaffer konnte er die Wetterlage am besten von allen beurteilen, schließlich arbeiteten und lebten er und sein Freund und Kollege als Holzfäller im Wald. Die freie Natur war ihnen deshalb mehr vertraut, als alles andere.
»Selbst wenn, dann wird es Wochen dauern, bis der Rückweg ins Tal wieder passierbar ist«, ergänzte Jack mit heiserer Stimme und zog danach geräuschvoll an der feuchten Kippe.
Romero nahm einen großen Schluck. Warm lief der Bourbon durch seine Kehle und erzeugte im Magen ein wohliges Gefühl. »W-W-Wenn uns das E-E-Essen ausgeht, m-m-müssen wir uns e-e-ben selber s-s-s-schlachten …«
»Red‘ keinen Scheiß, Ray«, fuhr ihn Peter York an. »Das ist nicht witzig.«
»Warum reagierst du denn so gereizt?«, wollte Waters wissen.
»Ich habe erst vor Kurzem eine TV-Dokumentation gesehen, die mir eine Gänsehaut verursacht hat und das will schon was heißen. Wenn ich mich richtig erinnere, ist im Oktober 1972, eine Chartermaschine mit einem uruguayischen Rugbyteam, samt deren Freunden und Angehörigen an Bord mitten in den schneebedeckten Gipfeln der Anden abgestürzt. Einige hatten überlebt und mussten schließlich in über 3.600 Metern Höhe ohne Nahrungsmittel und ohne Hoffnung auf Hilfe ums Überleben kämpfen. Neben den eiskalten Temperaturen und den tödlichen Lawinen war der Hunger irgendwann ihr schlimmster Feind.«
»Spuck schon aus, was du damit sagen willst, Peter.« Jack drückte den Zigarettenstummel im Aschenbecher aus und wischte sich Asche von seiner Hose.
»Um nicht elendig zu verhungern, beschlossen die Überlebenden schließlich, menschliches Fleisch zu essen, weil sie keine andere Nahrungsquelle hatten.«
»V-V-Von wem d-d-denn?«
»Von den Leichen, die unter dem Schnee lagen, Ray! Kapierst du das?« Obwohl Peter York einen ganzen Kopf kleiner war als sein Kumpel, hätte er ihm am liebsten eine gescheuert, so sehr wühlte ihn diese Geschichte auf. Seit sie erfahren hatten, dass in dem von der Außenwelt abgeschnittenen Snow Hill Hotel die Lebensmittelvorräte fast gänzlich aufgebraucht waren, konnte er an nichts anderes mehr denken. Nur noch an Kannibalismus. Daran, wie er seine Zähne in Rays, Erics oder Jacks kaltes, rohes und leichenstarres Fleisch schlug … wie er dicke Brocken herausriss, und sie hinunterwürgte …
York leerte sein Glas mit einem Zug, um sich nicht über der Mahagonitheke übergeben zu müssen.
»Ein bisschen an der sexy Britt herum zu nagen, würde mir nichts ausmachen.« Shaffer lachte auf.
»Denk doch nur mal an ihre prallen Titten, der pure Wahnsinn«, stimmte Waters ihm zu. Er und Jack waren die einzigen Verheirateten unter den vier Jägern. Eric hatte sogar zwei Kinder. Dennoch träumte er davon, eine Pussy wie Britt unter den sprichwörtlichen Hammer zu bekommen. Jack dachte sowieso an nichts anderes und stieg ohnehin jedem Rock nach. Vor allem den blutjungen Frauen. Er war unglücklich in der Ehe mit seiner dicklichen, nicht gerade attraktiven Jane, die es auch in der Horizontalen nicht mehr brachte.
»Ihr könnt mich mal«, rief York dazwischen, der sich wegen des plötzlichen Themenwechsels von seiner Anden-Kannibalismus-Story zu Britt auf den Arm genommen fühlte. Er wollte sich gerade vom Barhocker schwingen, aber Jacks riesige Pranke hielt ihn zurück.
»Du hast ja recht, Peter«, sagte er in einem versöhnlichen Tonfall. »Das ist echt eine verflucht beschissene Überlebensgeschichte. Soweit darf es hier niemals kommen.«