Das Buch der Liebe. Marie Eugenie delle Grazie
geblieben bei dieser Rede. Nur einmal hatte er dem Priester leise zugelächelt – wie ein Weltmann dem anderen. Annemarie hatte es wohl bemerkt. Und der alte Priester war unter diesem Lächeln leise errötet.
Hatte sie sich getäuscht, oder gab es wirklich ein Wissen, das von Mann zu Mann ging, wie es heißt, und selbst vor dem Altar nicht haltmachte? Oder hatte sie selbst wieder mehr gesehen, als tatsächlich vorgegangen war?
Wie töricht, so dazusitzen, nach der höchsten Stunde, die das Schicksal dem Weibe vorbehalten, und sich die Seele wieder wund und weh zu sinnen. Aber – nun war es geschehen. Und ihres eigenen Vaters Blick hatte Annemarie so weit gebracht ...
Ein leises Frösteln lief über ihren Leib. Sie erhob sich, warf wie angeekelt eine Makrone von sich, die sie vor einigen Minuten aus dem silbernen Körbchen herausgelangt. Vielleicht waren es schon die nahenden Schauer des Morgens, die sie so seltsam erbeben machten, diese unheimliche Stille der letzten Stunden nach Mitternacht – vielleicht ...
Und da kam es plötzlich wieder durch dieselbe Stille zu ihr – ein leises, leises, gleichsam sprechendes Knistern. Derselbe Ton, mit dem sie das uralte Kruzifix in den weißen Nächten ihrer Mädchenjahre so oft zu sich gerufen.
Annemarie wußte, daß es diesmal nur eines der neuen Möbel sein konnte. Daß der Betschemel mit dem redenden Kreuz noch immer in ihrer leeren Stube daheim stand. Sie wußte es so gewiß, wie sie da saß, ein schönes, glückliches Weib in seinem jungen Heim.
Und doch kam plötzlich ein wildes Sehnen, ein banges, ratloses und irres Heimweh über ihre Seele – nach allem, was sie verloren und vergessen und hingegeben hatte in dieser einen, einzigen Nacht!
*
So fand sie der Gatte, der wohl auch erwacht war, wenn ihn nicht Annemaries leises Geschluchze aus seinem lächelnden Traum geweckt hatte.
Die Kerze in der Hand, stand er einen Augenblick vor ihr – erstaunt, verstört – bis ihn die halb aufgegessene Nektarine und das zerbröckelte Backwerk einigermaßen beruhigten.
»Ja sag' mir nur, Maus, was treibst du denn da? Essen und weinen?«
Es war in der Tat drollig, Annemarie fühlte es selbst. Und in ihr Weinen mischte sich ganz leise und wie von ferne her ein kindlich verlegenes Lachen. Aber ihre Tränen flossen weiter. Und nun sank auch ihr Haupt auf den Arm herab, den sie wie hilflos weit über den Tisch gestreckt hatte. Die gelösten Haare fielen auf das glühende Antlitz. Immer heftiger und lauter wurde ihr Geschluchze. Wilhelm stellte den silbernen Leuchter nieder und haschte wie scherzend nach der Linken, die schlaff und bebend herabhing.
»Nun sag' mir, wo ich dir helfen soll? Beim Essen oder beim Weinen?«
Sie schüttelte bloß das Haupt.
Er blickte nach dem Fenster, merkte, daß es weit offen stand, und sog mit geblähten Nüstern den irren Duft der Blumen ein, die draußen blühten. Dann sah er wieder in die Stube zurück und nach Annemarie. Mit Augen, die vom kaum gelöschten Brand der Sinne wieder aufzuglimmen begannen und heiß und trunken über ihre hilflose Gestalt hinirrten. Aber auch mit einer gewissen Verlegenheit. War es ihm doch noch neu – das jungfräuliche Weib, dem die Liebe ein Schreck ist und eine Qual.
Wieder griff er nach ihrer Hand, strich kosend unter den Spitzen des Nachtgewandes über ihren schwellenden Arm hin. Ihre Pulse flogen unter dem tastenden Druck seiner Finger – der ganze Leib war eine einzige Erschütterung. Er fühlte es.
Und da kam es aufs neue über ihn:
Jetzt sie in die Arme nehmen, gerade jetzt!
Und weil er ein Mann war und das Weib zu kennen glaubte, seufzte er auf.
»Hab' ich dich so unglücklich gemacht?«
Seine Stimme bebte. Der samtene Ton darin, der ihre Sinne zuerst gefangengenommen hatte, warb auch diesmal nicht umsonst.
Sie fuhr fast erschrocken empor, starrte ihn an.
»Aber, Wilhelm!«
»Erlaub mir ... Die erste Nacht! Und du schleichst dich weg von mir, um heimlich zu weinen!«
Und nun starrte er wirklich trostlos in das Licht hinein.
»Nein, nein,« stammelte sie befangen und verwirrt. »Erst – erst wollt' ich nur das Fenster öffnen, um etwas frische Luft zu bekommen, die Rosen rochen so stark ...«
»Die Rosen, so?« Er sah sie an und lächelte.
Annemarie errötete. Sein Lächeln hatte immer mehr verraten als sein Wort und sein Blick. Es war die eigentliche Seele seines Antlitzes. War selbst im Schlummer nicht von seinen Lippen gewichen in dieser Nacht. Sie wußte, warum sie es fürchtete, davor errötete – gleichsam in ihr Innerstes zurückflüchtete, soweit es noch ihr eigen war.
Aber das Lächeln wich nicht aus seinen Zügen. Vielleicht kannte er schon seine Gewalt. So brach sie langsam darunter zusammen, wie ein Vöglein.
»Und dann –?« fragte er weich.
Sie wies wie beschämt nach dem Obst und dem Backwerk.
»Dann überkam mich der Hunger.«
»Versteh' ich!« nickte er, immer mit dem gleichen Lächeln.
Annemarie fühlte, wie es wieder in ihren Wangen emporlohte. Gab es denn keinen Schleier mehr für ihre Seele?
Sie schlug den Blick in den Schoß.
»Das alles war aber doch um Gottes willen noch kein Grund, um zu weinen?« sprach er sichtlich gekränkt. »Womit ich auf meine erste Frage zurückkomme.«
Sie starrte ihn fast erschrocken an.
»Auf welche?«
»Nun ... Ob ich dich so unglücklich gemacht habe? Und ich glaube, daß ich als Mann von Kultur und Zartgefühl ein Recht habe, das zu fragen!«
Was sollte sie antworten, wenn sie ihr Geheimnis nicht preisgeben wollte? Das letzte, scheu gehütete, keusche Geheimnis ihrer Seele! ... Zu einem Kreuze führte es zurück – nur zu einem Kreuz und zu dem heiligen Meister der Menschenseele, der daran hing.
Er würde es gar nicht verstehen, dieses Geheimnis, es vielleicht wieder belächeln, im Innersten seines Herzens ihr vielleicht nicht einmal glauben – so ganz anders geartet, wie er war!
Und doch fühlte Annemarie, daß ihr nichts übrig blieb als dieser Verrat an ihrem Letzten. Wenn nichts mehr zwischen ihr und dem Gatten sein sollte – auch nicht die leiseste Sehnsucht, der die Gewalt gegeben war, ihre Seele fortzuführen aus seinem Heim.
Vielleicht sah er besser, was in ihr vorging, als sie selbst merkte. Denn plötzlich stand er auf, zog sie schmeichelnd erst an sich, dann langsam aber stark auf seinen Schoß nieder, bog ihr Haupt zurück, bettelte sich mit einem Kuß an ihr Ohr:
»Sag' mir, was es ist?«
Und mit stammelnden Lippen, mit geschlossenen Augen, mit einem Schauer, der ihren ganzen Leib durchrieselte, gab sie ihm das letzte preis, was sie noch verborgen hatte vor ihm.
Dann sah sie ihn an mit einem großen, gleichsam wartenden Kinderblick.
Aber er sah nicht den Blick,