Das Buch der Liebe. Marie Eugenie delle Grazie

Das Buch der Liebe - Marie Eugenie delle Grazie


Скачать книгу

      Seit sie denken konnte, war dieser jüngste Bruder ihre Sorge gewesen. Dieses stille, blasse, immer versonnene Kind, in dem vielleicht ein Dichter träumte, vielleicht ein großer Forscher, jedenfalls ein anderer Mensch. Wie zu einer Schwester hatte sie oft mit ihm reden können. Denn sein Herz war voll Ehrfurcht für alles, was die Welt an Großem und Schönem hatte, dabei zärtlich und verträumt, wie die Seele eines Weibes. So war er langsam der blonde, hochaufgeschossene Junge geworden, dem nur bei den Büchern wohl war; bis er sich über Bibel und Geschichte allmählich in die großen Abstraktionen des Menschengeistes hineingefunden hatte – mit seltener Frühreife seitdem in einer Welt lebte, die mit den gemeinen Dingen des körperlichen Daseins so wenig wie möglich zu tun hatte.

      So mußte er Konrads Freund und Vertrauter werden und zuletzt ganz in den Gedanken des älteren Gefährten aufgehen. Aber seine Liebe war der Schwester geblieben.

      »Er ist doch nur ein Kind,« dachte Annemarie gerührt. »Das sich nicht vorstellen kann, wie etwas, das es immer so ganz als sein Eigen betrachtet, nun plötzlich einem anderen zugehören soll.«

      Und doch war ihr mit einem Male, als beginne die Trauer des Bruders heimlich und in irgendeiner unerklärlichen Weise auch auf sie hinüberzuwirken, daß es einen ganzen Augenblick wie ein beklommenes Ahnen über ihrer Seele lag ...

      3.

      Als der Sekt in den feingeschliffenen Glaskelchen perlte, begannen die Trinksprüche. Gutgemeinte, billige Redensarten, mit etwas Salbung versetzt, bald mit einigem Witz. Manch einer wohl auch darauf angelegt, in die Wangen der Braut ein flüchtiges Rot zu jagen. Und dann war auch das vorüber. Man ließ sich nur mehr den köstlichen Wein munden oder schlürfte das Eis, das immer wieder die Runde um die Tafel machte – und schwatzte sich dabei den letzten Zwang vom Herzen. Nun war auch die Braut vergessen –

      Annemarie bemerkte zuerst, daß ihr Gatte sich entfernt hatte. Gleich darauf trat die Mutter hinter ihren Stuhl und teilte ihr leise mit, daß draußen der Wagen halte, der sie nun in ihr eigenes Heim bringen sollte.

      »Ich werde mit dir hinausgehen«, sagte Frau Krüger, »und unterdes frischen Champagner herumreichen lassen. So wird es weiter nicht auffallen.«

      Annemarie erhob sich und folgte der Mutter ruhig und wie in einer häuslichen Angelegenheit. Draußen warf sie sich noch einmal in ihre Arme. Dann glitt sie wie im Traum über die teppichbelegten Stufen, durch den noch in hellem Sonnenglast prangenden Garten. Am Schlag des Wagens stand schon ihr Gatte und half ihr hinein. Dann fiel die Türe zu. Es war diesmal ein geschlossener Wagen.

      »Ist es hier schwül!« stammelte Annemarie unwillkürlich.

      »Wenn du befiehlst, lass' ich das Dach zurückschlagen,« erwiderte der junge Gatte. »Aber weil du auf der Fahrt von der Kirche über die vielen fremden Blicke geklagt hast –«

      »Laß nur,« bat sie. »Gewiß ist es so besser!«

      Schweigend fuhren sie dahin.

      Er hatte sich zurückgelehnt, ihre Hand in der seinen, und Annemarie fühlte, wie seine Blicke immer wieder über sie hinirrten, der Druck seiner Rechten immer heißer und fester wurde.

      »Nun soll es nur um Gottes willen unserem tauben Faktotum nicht auch noch einfallen, uns mit einem reichbesetzten Tisch zu erwarten,« sprach er mit einer Art komischer Verzweiflung in das Schweigen hinein.

      Annemarie lächelte. »Wenn Mama keine Aufträge gegeben hat –«

      »Du weißt, daß ich deine Mutter schätze,« sprach der junge Gatte mit einer gewissen Nachlässigkeit. »Aber es soll mich wundern, wenn sich all diese mütterliche Fürsorge nicht zuletzt noch in einen guten Kaffee ergießt.«

      Annemarie schwieg.

      »Vielleicht wär' es doch besser gewesen, wenn wir sofort eine kleine Reise angetreten hätten. Trotz der großen Hitze.«

      »Das haben wir so gründlich durchgesprochen und so oft jedes Für und Wider erwogen –«

      »Ja,« nickte er. »Und dann, es ist wahr – wenn wir morgen erwachen, sind wir daheim!«

      »Und das wird unsäglich schön sein,« lächelte Annemarie versonnen, »dieser alte, verträumte Garten, rings um das Haus!«

      »Und alles so still ringsum,« kam es gepreßt zurück, »dort wird dich wirklich niemand sehen als ich!«

      Und wieder flammten seine Blicke über sie hin. Dann hob er ihre Hand an die Lippen. Wie sein Kuß brannte!

      Annemarie errötete. »Mit unserem Hausgeist werd' ich mich anfangs wohl nur mühsam verständigen können,« sprach sie wie ablenkend. »Sie ist schon mehr als schwerhörig, und da sie so lange deine Junggesellenwirtschaft geleitet, wird sie für die Befehle einer Frau erst recht taub sein. Und vielleicht sogar mit einem gewissen Vergnügen.«

      »Da tätest du der guten Alten unrecht,« lachte Annemaries Gatte auf. »Die war immer willig, weiß Gott. Und wenn deine Mutter endlich das rechte Stubenkätzchen gefunden, kannst du ja deine Befehle auf Umwegen geben.«

      »Dazu wird man wohl nicht die Frau seines Mannes,« kam es etwas spitz zurück.

      »Aber Mie!« schmeichelte er.

      »Doch, Will!« beharrte Annemarie, während der Gatte seine Zähne wie zu einem scherzhaften Biß in ihre Handfläche grub. »Ich weiß, daß solche Leute sehr ehrlich, sehr vertrauenswürdig und in mancher Beziehung oft nicht genug zu schätzen sind. Aber die gute Alte hat nun einmal etwas allzu lange bei dir das Regiment geführt. Und das macht eigenwillig.«

      »Aber Mie, ich liefere sie dir ja aus, mit Haut und Haaren!«

      »Ihre Krallen wird sie wohl für sich selber behalten,« meinte Annemarie nachdenklich. »Und mich auf Schritt und Tritt belauern.«

      »Das gewiß!« neckte er mit einem eifersüchtigen Blick.

      Annemarie schüttelte das Haupt. »Ich meine das nicht so. Aber sie hat dir im Laufe der Jahre all deine Gewohnheiten abgeguckt. Darunter vielleicht Liebhabereien, von denen ich noch keine Ahnung habe. Um das ist sie mir voraus!«

      Er hatte sie ruhig weiterreden lassen und gleichsam belustigt zugehört, noch immer ihre Hand in der seinen. Da glaubte sie plötzlich zu fühlen, daß seine Finger einen leisen Ruck machten, als wär' es ihm mit einem Male peinlich, ihr gerade bei diesen Erörterungen so körperlich nahe zu sein.

      Es war vielleicht nicht die richtige Stunde für ein solches Gespräch. Warum aber wich er ihr plötzlich auch mit den Augen aus und starrte so angelegentlich in den Abend hinein?

      »Er soll wissen, daß ich nur als Herrin dort ankommen will!« dachte Annemarie und setzte sich hoch.

      *

      Die Bienen hingen noch in den blühenden Linden, als der Wagen vor dem zierlichen Hause hielt, und ihr tiefes Gesumme wehte der jungen Frau wie ein ferner Glockenton entgegen.

      Wilhelms alte Dienerin stand mit einem Strauß heiß duftender Lilien vor der Türe. Sie hatte ihr Antlitz in die freundlichsten Falten gelegt und strich während der Begrüßung voll Eifer über die weiße Schürze. Fest und ehrbar waren die schwarzseidenen Haubenbänder unter dem eckigen Kinn zusammengeknüpft.

      Und da


Скачать книгу